Ece Temelkuran: „Stumme Schwäne“

Ece Temelkuran Stumme Schwäne Hoffmann und Campe

Der Schwan ist ein Sinnbild des Lichts, der Reinheit und der Poesie. Doch sind es stumme Schwäne und dann sollen ihnen noch die Flügel gebrochen werden. Dies ist das zentrale Bild des Romans von Ece Temelkuran und verbirgt einen Bezug auf die historischen Ereignisse. Das traurige Bild der gebrochenen, edlen und stummen Vögel, die nicht mehr wegfliegen können ist ein Symbol der Freiheitsberaubung. Der Roman spielt 1980 und die Türkei steht kurz vor einem Militärputsch. Die Geschehnisse werden aus wechselnden Perspektiven, meist aus den Augen der beiden Kinder Ayses und Ali erzählt. Es ist ein Roman, der Historisches aufzeigt, aber stets den Bezug zur aktuellen Situation im Leser heraufbeschwört. Die komplizierte und polarisierende Gesellschaft, voller Feindseligkeiten wird durch die Kinderperspektive sehr lebendig. Es geht um diese beiden Kinder, die versuchen die Schwäne vor einer autoritären Regierung zu schützen und nebenbei die ganze politische Situation des Bürgerkriegs der Türkei erleben.

Auf den Spuren zweier Familien in Ankara erfahren wir viel über die Geschichte der Türkei. Doch ist es kein historischer Roman, sondern ein Einblick in die Gesellschaft und die Zeit durch die Augen der Kinder. Dieser Kunstgriff erlaubt es uns, in eine noch nicht voreingenommene oder von Erwachsenen geprägte Weltsicht einzutauchen. 1980 war die Republik der Türkei geprägt durch fehlende politische Stabilität. Daraus resultierten wirtschaftliche und soziale Probleme, die Streiks und Gewalt provozierten. Es wurden Menschen gefangen genommen, gefoltert und auf den Straßen kam es zu brutalen Kämpfen zwischen den Nationalisten und den Linken. Die Autorin war damals selbst ein Kind und hat diese Zeit erlebt, die heute wieder oder noch sehr aktuell ist. Ece Temelkuran verlor durch ihre politische Haltung eine Stelle als Redakteurin und zählt heute zu den bedeutendsten türkischen Autorinnen.

Wir lernen die Familien Bakar und Akgün und besonders deren Kinder kennen. Ali Akgün lebt mit seiner Familie in Armut. Durch einen Brandanschlag gelangen sie immer mehr in das Elend. Als seine Mutter aber anfängt putzen zu gehen, lernt er Ayse kennen. Seine Mutter reinigt das wohlhabende Haus der Familie Bakar und er selbst verbringt seine Zeit mit Ayse und freundet sich mit dieser an. Seit er mal in einen Brunnen gestürzt war, ist er ein schweigsamer, introvertierter Junge geworden. Er ist sehr sensibel und sehr intelligent. Ayse ist dagegen noch sehr kindlich und naiv. Sie sieht vieles als eine Art Spiel an und versteht von den mitgehörten Gesprächen ihrer linksorientierten Eltern sehr wenig. Denn die Eltern verheimlichen den Kindern nichts, gehen diese doch davon aus, dass die Kinder es wohl nicht ganz verstehen. So bekommen die Beiden die Unterhaltungen und Treffen der Erwachsenen, die auch mal als Verlobungsfeier getarnt werden, mit. Diese Gespräche und die wachsende Gewalt prägen immer mehr die Welt und das Umfeld der Kinder. Trotz der unterschiedlichen Lebensweise fühlen sich Ayse und Ali sehr vereint. Ihre weltoffene Sicht ist belebt durch Kinderspiel und -wunsch. Sie wirft Kichererbsen in die Fenster des Gefängnisses, weil sie es als ein Spiel ansieht und er hat immer Bänder bei sich, die ihn beruhigen oder als Handwerkszeug oder Geschenk dienen. Ihre Verwandlung, d.h. ihr Verstehen, wächst mit dem Wunsch, ihre Schmetterlinge in das Parlament zu schmuggeln. Als dann der Befehlshaber der Armee die Schwäne aus dem Schwanenpark in seinen privaten Garten bringen lassen möchte, wollen die Kinder eingreifen und handeln, weil den Tieren auch, damit sie nicht entkommen können, die Flügel gebrochen werden sollen.

Der Roman ist voller Bilder und Erzählerstimmen, die uns die Geschichte der Türkei näher bringen und verstehen lassen. Der Schrecken des Sommers von 1980 und der Bürgerkrieg sowie der Militärputsch werden erlebbar. Der Bezug zum Putsch von 2016 ist ersichtlich und die Abläufe scheinen ähnlich. Die Angst der Menschen vor der Gewalt, vor dem falschen Wort ist weiterhin von aktuellem Belang. Man kann nur wünschen, dass es immer kindliche Seelen geben wird, die sich für gebrochene Schwäne einsetzen werden.

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