Karan Mahajan: „In Gesellschaft kleiner Bomben“

Karan Mahajan I Gesellschaft kleiner Bomben CulturBooks

Das Buch brennt sich im Leser ein und man verfolgt elektrisiert die literarische Schallwelle einer Bombe. Es beginnt mit einer Autobombe, die im Mai 1996 auf dem Markt in Lajpat Nagar hochgeht. Es werden darauffolgend alle Auswirkungen und Wege zum und nach dem Anschlag beleuchtet. Lebendig treten uns die Opfer, die Angehörigen und die Täter entgegen und man fragt sich als Leser, ob man sich nur noch wundern oder über nichts mehr wundern kann.  Ein erkenntnisreiches, bewegendes und unglaublich wichtiges und lesenswertes Buch über die Frage, wie entsteht Terrorismus und wie werden Menschen radikal?

Als erstes liest man aus der Sicht der Opfer, das sind die Familien Khurana und Ahmed. Die Brüder Tushar und Nakul Khurana sind mit ihrem Freund Mansoor Ahmed auf dem Markt. Mansoor soll laut seiner Mutter eigentlich nicht raus, aber da er gerade bei seinen Freunden ist, die für ihren Vater einen alten Fernseher zu Reparatur bringen sollen, geht er mit. Dann explodiert eine Autobombe. Eine dieser kleinen Bomben, die von der Welt kaum Beachtung findet. Aber es gibt viele Tote und Tushar und Nakul sind sofort tot. Der zwölfjährige Mansoor erhebt sich verletzt und taumelt verstört davon. Die Familie Ahmed, die bisher nicht wissen, ob ihr Sohn überlebt hat, gibt der Familie Khurana die Schuld, da diese den Weg der Kinder zum Markt zugelassen hatte. Doch als ihr Sohn zwar verletzt, aber lebend nachhause kommt, übernimmt die Trauer über den Verlust der Khurana-Brüder.

Die Attentäter sind Kaschmiri, Widerstandskämpfer, die die anstehenden Wahlen beeinflussen wollen und Gewalt als Mittel zum Zweck ansehen. Bomben als Aufruf für ihre Sicht auf Gerechtigkeit. Auch wenn es viele Tote gab und der Platz und die anliegenden Geschäfte einem Trümmerfeld gleichen, war es aus ihrer Sicht eine viel zu kleine Bombe. Als die Attentäter in ihre Gruppe zurückkehren gratuliert man zu 200 Opfern, obwohl es wohl in Wirklichkeit weniger waren. Sie feiern sich auf zynische Weise als Helden und viel später im Roman wird der Vergleich zu den Anschlägen in Amerika gezogen. Die Täter sind Menschen, die unmenschlich agieren und in einem großspurigen, prahlerischen Umfeld leben und kaum Mitleid oder Empathie mit den Opfern entwickeln.

Mit dem Wechsel der Perspektiven erhaschen wir Einblicke in fremde Welten und Sichtweisen. Das Drama wird anhand der Familie Khurana verdeutlicht. Die Eltern der Brüder haben sich damals durch die Liebe zum Film kennengelernt. Durch den Verlust ihrer beiden Söhne versinken sie in Trauer und erst einige Jahre später durch die Geburt ihrer Tochter, gewinnen sie bedingt ihr Leben zurück. Für Mansoor beginnt bereits als Kind mit der Bombe eine neue Zeitrechnung. Das Ereignis teilt sein Leben in ein Davor und ein Danach. Lange wird er Schmerzen im rechten Arm haben. Schmerzen, die durch einen Splitter verursacht werden, der seine Nerven verletzt hat. Er beginnt, Informatik zu studieren und mit siebzehn verlässt er Delhi, um in die USA zu gehen. Aus ihm ist ein guter Programmierer geworden, doch durch die Haltung am PC verschlimmern sich seine Schmerzen und er kommt 2003 nach Indien zurück. Da seine Eltern bei einem Immobiliengeschäft betrogen wurden, ist aus finanziellen Gründen eine Rückkehr nach Amerika undenkbar. Bei einem „Peace-For-All-Treffen“ lernt er Ayub, einen charismatischen Aktivisten, kennen. Durch ihn erwacht in Mansoor das Religiöse und er erlernt, durch Visualisierung die Schmerzen weg zu meditieren. Seine Suche nach einem Platz im Leben nimmt immer radikalere Formen an. Ayub gerät durch seine verlorene Liebe und depressive Haltung an die Bombenleger und die Welt wird immer zynischer…

Der Roman spielt großartig mit den Perspektiven und die Wertung wird nicht vom Autor bestimmt, sondern durch die Einsicht in alle Denkmuster bildet sich diese im Leser. Gleich einer Druckwelle wächst der Roman immer mehr und breitet sich im Leser aus. Das Buch hinterlässt Erkenntnis, Reichtum und natürlich auch Verwirrung und Zerstörung. Der Roman ist grandios, detailliert und mit subtilem Humor, d.h. Sarkasmus gewürzt. Ein berührender und stets spannender Text, der die moralischen Grundfragen der Gegenwart kunstvoll darstellt und in Frage stellt.

Karan Mahajan wurde 1984 geboren, wuchs in Neu-Delhi auf und lebt in Texas. Der Roman „In Gesellschaft kleiner Bomben“ stand u.a. auf der Shortlist für den National Book Award 2016 und erhielt in Amerika viele Preise. Die „New York Times“ schrieb, dass dieses Buch zu den zehn besten des Jahres gehörte.

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3 Kommentare

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3 Antworten zu “Karan Mahajan: „In Gesellschaft kleiner Bomben“

  1. Lieber Hauke,
    der Roman stand schon auf meiner Lesewunschliste, nun hast du mich mit deiner Besprechung sehr darin bestärkt, die Lektüre auch tatsächlich zu beginnen. Eine einfache Lektüre scheint es aber nicht zu sein, wenn ausgerechnet das Opfer des Bombenanschlags sich beginnt zu radikalisieren. Das lässt sich doch nur schwer ertragen, oder?
    Viele Grüße, Claudia

    • Liebe Claudia,
      es ist ein Buch, das ich zügig – elektrisiert – durchgelesen habe und es lässt sich durch den subtilen Humor ertragen. Ich finde, es lohnt sich sehr! Nach Beenden der Lektüre bleiben viele Eindrücke und man beginnt erneut zu hadern, nachzudenken etc… Ein tolles Buch! Ich hoffe, es wird Dir gefallen!
      Liebe Grüße, Hauke

  2. Pingback: [Rezension]: Karan Mahajan – In Gesellschaft kleiner Bomben – Lesen macht glücklich

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