Gilles Marchand: „Ein Mund ohne Mensch“

Marchand Ein Mund ohne Mensch Austernbank

„Ich habe ein Gedicht und eine Narbe“.

Diese Zeile steht am Anfang des Romans über einen Namenlosen Erzähler, der diesen Satz im letzten Kapitel wiederholt. Bis dahin trägt er uns und seine Zuhörer in einem Pariser Café durch seine Geschichte. Eine leserverspeisende, berührende Lektüre. Der Debütroman war eine große Überraschung in Frankreich und wurde besonders durch den Buchhandel zum Erfolg. Es geht um die Kraft der Erzählung. Denn das Erzählen und das Reden als öffnende Energie zum Überleben. Die Narbe, die der Erzähler hat, verdeckt er stets mit einem Schal und wie und wo er diese bekommen hat, wird er Stück für Stück offenbaren. Durch die Menschenmenge, die beständig wächst und ihm zuhört, wird seine Geschichte eine Geschichte. Das Gedicht, das er gleich zu Anfang erwähnt, wird erst am Ende des Buches zitiert. Es ist das Gedicht „Oradour“ von Jean Tardieus, aus dem auch der Romantitel stammt. Durch diese Verse werden viele Fragen beantwortet. Gilles Merchand hat mit diesem Roman seine Familiengeschichte aufgearbeitet. Oradour wurde nach der Zerstörung im Krieg nicht wiederaufgebaut und ist ein nationaler Gedenkort. Erst 2013 wurde dieser durch den Besuch von Joachim Gauck einer breiteren Öffentlichkeit bekannt.

Der Erzähler ist Buchhalter mittleren Alters und lebt in Paris. Sein beruflicher Alltag ist von Zahlenkolonnen bestimmt und er liebt es, in Stille diesen nackten Zahlen Raum und eigene Geschichten zu geben. Denn seine Routine ist es, sich von allen anderen abzugrenzen und seine Gedanken in sich zu vergraben. Seine Gedankenströme wachsen gleich mit dem Müll vor seiner Haustür, denn dort ist vor kurzem der Concierge verstorben und keiner, er auch nicht, bemüht sich, den täglich wachsenden Abfall zu beseitigen. Ständig trägt er einen Schal, der seine entstellende Narbe, die er seit Kindertagen hat, verdecken soll. Seinen Schals widmet er sogar einen eigenen Raum bei sich in der Wohnung, denn er hat Angst, dass auch diese ihn eines Tages sonst verraten könnten. Denn gleich seinem Großvater bricht er durch die Phantasie aus dem Alltag aus. Anfänglich ist es eine Stille, eine eigene Flucht aus der Realität. Jeden Abend, außer an den Sonntagen, trifft er sich mit zwei Freunden in Lisas Café. Dort trinken sie ihren alkoholverlängerten Kaffee und reden. Lisa ist die ruhende Seele des Freundeskreises und Sam ist eher der stille Zuhörer. Dann ist da noch Thomas, der beständig an einem eigenen Roman schreibt und seit einem Unfall meint, Kinder zu haben, die es aber gar nicht gibt. Auch Sam bekommt mysteriöse Post von seinen verstorbenen Eltern. Als eines Tages der Erzähler ungeschickt den Schal hebt um trinken zu können, bekleckert er sich so sehr, dass er die Runde früher als sonst verlässt. Seine Freunde wollen ihm zu verstehen geben, dass er sich bei ihnen immer gänzlich zeigen könnte, wenn er es wolle. Durch diese vertraute Runde schafft es auch der Erzähler sich langsam zu öffnen. Er erzählt aus seinen Kindheitstagen mit seinem Großvater. Es sind surreale, märchenhafte Anekdoten, die er von seinem Großvater zu erzählen weiß. Erst sind es nur die Freunde, die ihm in ihrem Stammcafé lauschen, aber immer mehr Gäste kommen, um ihm zuzuhören. Alle im Café und wir Leser werden Zeuge wie Literatur erneut Leben verändern, d.h. retten kann. Denn es ist die Phantasie und die Schönheit, die der absurd erscheinenden Realität trotzt.

 „Die Wirklichkeit ist ein wenig überschätzt“

Doch das Absurde weicht am Ende der tatsächlichen Geschichte. Als Leser und Zuhörer fragt man sich bis zum Ende, welche Narben versucht der Erzähler zu überdecken? Welche Wunden tragen alle mit sich herum und hat er nur die Pein hinter dem Schal verborgen? Wo ist sein Humor, seine Leichtigkeit geblieben? Was ist in seiner Kindheit vorgefallen und welche Rolle spielt dabei sein Großvater?

Das Buch wurde in Frankreich gefeiert und bekam diverse Lobeshymnen. Die Übersetzung stammt erneut von der Verlegerin selbst und passt sich gut in das Verlagssortiment ein, das sich auf prägende französische Literatur spezialisiert hat. Ein Roman, dem man schwer entkommen kann. Man möchte eigentlich nur den Anfang lesen und merkt gar nicht, dass man das Buch fast in einem Zug ausgelesen hat. Es erinnert ganz zart an die Werke von Alessandro Baricco. Erneut wurde der Beweis erbracht, dass Romane und Erzählungen, dank der Phantasie, lebensverändernd sein können…

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2 Kommentare

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2 Antworten zu “Gilles Marchand: „Ein Mund ohne Mensch“

  1. Grummel, grummel. Du bist mir schon wieder zuvorgekommen. 🙂 Ich freue mich auf den Roman, er liegt schon bereit. Allerdings muss der eine oder andere Titel noch seine verdiente Aufmerksamkeit erhalten. Viele Grüße

  2. Pingback: Wunden – Gilles Marchand „Ein Mund ohne Mensch“ – Zeichen & Zeiten

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