Dilek Güngör: „Vater und ich“

Es geht um Sprachlosigkeit und Schweigen. Um Annäherung, Verstehen und den anderen Menschen so zu akzeptieren, wie er ist. Dabei spielen das Geschlecht, das Alter und die Herkunft keine Rolle. Im Roman gibt es eine Stille, die uns alle berührt und betrifft. Gerade innerhalb der Familie oder bei geliebten Menschen fällt es schwer, offen über viele Themen zu sprechen. In einem ungezwungenen Gespräch oder Interview, in dem stets eine menschliche Distanz besteht, kann man schneller in einen Redefluss geraten. Man ist dem nahestehenden Menschen gegenüber gehemmter, weil man sich und den anderen schneller verletzen könnte. „Vater und ich“ ist eine Vater-Tochter-Geschichte, die im Kleinen große Momente erfasst. Sagt nicht oft der Blick in ein Gegenüber mehr als ein Dutzend Worte? Ist ein verschmitztes Lächeln nicht Aussage genug?

Ein introvertierter Vater wird von seiner Tochter besucht, die als Kind die Sprache inhaliert hat, Worte wortwörtlich gesammelt hat und nun als Journalistin tätig ist. Sie hat mit ihren Gesprächen und Interviews für die Medienwelt Erfolge feiern können. Ein Gespräch lebt aber nicht nur vom Sprechen und davon, auf das Gesagte zu reagieren, sondern auch vom genauen Hinhören. Diese Stille, die beim Hinhören und Hineinhorchen entsteht, erfüllt nun das Elternhaus, in das Ipek für kurze Zeit heimkehrt. Als sie noch ein Kind war, standen Ipek und ihr Vater sich sehr nahe. Beide liebten die kindlichen Albernheiten. Aber mit der Pubertät wuchs stillschweigend zwischen den beiden eine Stille. Das Schweigen war keine negative oder fremdelnde Lücke. Ipek kann diese nicht wirklich erfassen. Die Mutter ist die Vermittlerin und der innere Kern der Familie. Sie ist für ein verlängertes Wochenende mit Freundinnen weggefahren, daher macht sich Ipek auf den Weg, um den Vater zu besuchen, damit dieser nicht alleine ist. Bereits auf der Zugfahrt weiß sie, wie er sie abholen wird, sie kennt ihn genau. Sie weiß auch, dass sie um Gespräche tänzeln werden. Das Schweigen zwischen Ihnen wird eine Herausforderung für sie.

Der Vater ist in den Siebzigerjahren aus der Türkei nach Deutschland gekommen. Er hat sich einiges seiner Vergangenheit bewahrt, vieles aber aus der neuen Heimat für seinen Lebensalltag übernommen. Das vermeintliche Desinteresse an seiner Tochter trifft Ipek sehr. Er, der Vater, zeigt sich mehr im Handeln, im Tun und Wirken. Ipek, die nach Worten sucht und mit diesen innerlich ringt, sucht seine Nähe und beobachtet ihn beim Teekochen, beim Möbelrestaurieren und Polstern sowie im Garten.

Die Suche nach dem Abhandengekommenen wird innerhalb eines Kammerspiels sehr lebendig. Beide suchen die Beschäftigung – ein Reden mit Händen, ein Vermitteln durch Gestik und, wenn nötig, mit Worten. Ist Miteinanderreden vonnöten, wenn sich Selbstverständlichkeit ergibt? Vertrautheit, Vaternähe und ein gelassenes Beieinandersein wiegen viele Worte auf.

Es geht im Text um Familie, Integration, Sprachbarrieren und das Aufeinandertreffen verschiedener Kulturen und Generationen. Im Vordergrund ist es eine anrührende Tochter-Vater-Beziehung, die uns alle in gewisser Weise reflektiert und das Gelesene in den persönlichen Bezug stellen lässt. 

Alle Themen werden sinnbildlich ergriffen und der Inhalt wird mit viel Empathie für die Figuren erzählt. Das Komplexe wirkt hier leicht, zart und fast nur spürbar eingearbeitet. Dies ist die große Kunst des Werkes.

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