
Die Werke von Shumona Sinha sind immer eine Bereicherung und ein poetischer Blick auf unsere Welt. Es sind auch ihre Bücher, die einen Keim legen, der die Hoffnung birgt, die Welt besser zu verstehen und auch besser machen zu wollen. Ihre Sprache und der Inhalt verzaubern jedes Mal. Ihre Kunst ist es, den geschichtlichen Schrecken in Schönes zu verwandeln. Aber nicht die menschlichen Abgründe werden verschönert. Es ist eine lyrische Prosa, die uns die Welt stets etwas besser verstehen lässt.
Nach „Erschlagt die Armen!“, „Kalkutta“ und „Staatenlos“, die alle Leseschätze sind, hat Shumona Sinha eine Liebeserklärung an die Literatur geschrieben. Das Wirken und die Macht der Bücher sind ein Motor jeder Gesellschaft und dürfen nicht verblassen. Die Literatur als Exil und als Wegweiser in die Freiheit. Lesen als Flucht vor der Realität. Lesen als ein begreifen wollen und eine persönliche Reflexion. Doch gibt und gab es Schriften, die manipulieren, die Menschen und Staaten beeinflussen möchten. Diese zu erkennen und einzuordnen kann nur geschehen, wenn man das Umfeld bereits erlesen konnte. Von der Kraft der Literatur handelt „Das russische Testament“. Erneut wurde der Roman von Lena Müller aus dem Französischen übersetzt.
Im Prolog und am Ende taucht die Erzählerin in der Ich-Perspektive auf. Sie blickt auf ihre eigene Geschichte, die ihres Vaters und auf die einer Inderin, die sie brieflich kontaktiert hat. Das Schreiben erreicht sie als sie bereits 80 Jahre alt ist und in einem Altenheim in Sankt Petersburg lebt.
Tania wächst in Kalkutta in den 1980er Jahren auf. Als Kind lernt sie schon früh die magische Wirkung der Literatur kennen. Für sie ist diese anfänglich eine Flucht aus der Realität. Ihren russischen Vornamen hat sie auf Wunsch ihres Vaters erhalten, der eine kleine Buchhandlung betreibt. Im kommunistischen Westbengalen ist die sowjetische Kultur allgegenwärtig. Tanias Vater vertreibt legale und illegale Übersetzungen der Weltliteratur, besonders der Russischen. Tanias Lesesucht beginnt mit Kinderbüchern, die ihr in Folge die Welt der ganzen Literatur eröffnen. Die Flucht in die Literatur wird bestärkt durch die Lieblosigkeit ihrer Mutter, die Tania seit der Geburt verschmäht. Somit ist das Elternhaus keine wirkliche Zuflucht und kein beschützendes Heim. Tania hat stets etwas der Welt enthobenes und ihr Umfeld reagiert diesbezüglich unterschiedlich auf sie.
Als Studentin geht sie auf die Suche nach ihrem Weg und streift dabei das Rebellische. Die Welt der Bücher bleibt ihr beständiger Begleiter. Dabei stößt sie auf eine Regenbogenwelt aus dem Raduga Verlag aus Russland. Der jüdische Journalist Lew Kljatschko gründete in den 1920er Jahren einen Verlag, dessen Werke in der ganzen Welt übersetzt erschienen. Auch ins Bengalische wurden die Bücher aus dem Raduga Verlag übertragen und somit wird Tania auf diesen Verlag aufmerksam. Doch gibt es den Verlag nicht mehr. Während der Stalinzeit musste Kljatschko seine Tätigkeit einstellen und entging nur knapp einem Todesurteil.
Tania ist an der Geschichte des Verlages und des Verlegers interessiert und setzt einen Brief auf, den Adel erhält. Adel ist die Tochter des Verlegers und lebt nun als Achtzigjährige in einem Heim in Sankt Petersburg. Beide Frauen nähern sich somit einander an und die Geschichte beginnt, sich zu verbinden.
Shumona Sinha ist eine großartige Autorin. Ihre Werke strahlen voller Leben und die Geschichten berühren sehr. Die Literatur von Shumona Sinha beinhaltet starke Bilder, die immer den Ruf nach Freiheit und Frieden widerspiegeln. Das Metaphorische und die Sprache sind voller Poesie und Sinnlichkeit und beschreiben dabei zuweilen den Schrecken, den nur Menschen sich ausdenken können. Tania ist eine Figur, die sich gänzlich durch die Macht der Literatur findet und zuweilen in Träumen und Bildern von einem Schwan, dem Sinnbild der Lyrik, begleitet wird. Adel hingegen sieht einen Wolf oder einen Fuchs, der ein kluger Kämpfer sein kann. Beide eint der Wunsch nach Befreiung, der Kampf ums Überleben und die Sehnsucht nach Freiheit.
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