Annie Ernaux: „Der junge Mann“

Die Grande Dame der literarischen Miniaturen gewährt uns erneut einen privaten Blick in ihr Leben, das durch die Bezüge, wie alle ihre Werke, ein Sinnbild der Gesellschaft ist. Sie erhielt 2022 den Literaturnobelpreis, denn ihre Werke schaffen viel Raum für Gesellschaftliches, Politisches und für Emanzipation. In Ihren Büchern erzählt sie von ihrer Kindheit in einer Unterschichtenfamilie, wie sie sich durch Bildung und Studium hocharbeitete und von dem Leben ihrer Familie. Alle Werke sind prägend für die französische Gegenwartsliteratur. Das aktuelle Buch benötigt erneut wenige Worte, um einen großen Raum zu öffnen. Diesmal ist es die Umkehr der Muse. „Der junge Mann“ erzählt von ihrem Tabubruch aus damaliger Sicht. Ernaux ist Mitte fünfzig und beginnt ein Verhältnis mit einem dreißig Jahre jüngeren Studenten. Er bleibt im Roman farb- und namenlos. Lediglich auf ein „A“ wird er reduziert. Durch seine Jugend wird sie ihrer Generation entzogen, gehört aber nicht mehr zu seiner. Er lebt spartanisch und unbequem. Das Provisorische zieht sie dennoch an und dadurch durchlebt sie ihre eigene Vergangenheit erneut. Es sind nicht nur die Leidenschaft und der Sex, sondern die Auseinandersetzung mit dem Umfeld und dem Erlebten, das sie reizt. Ein Tabu in der Gesellschaft, dass sie als alternde Frau einen jungen Mann ausführt. Andersherum wäre es oft ein Heldenstück. Es schmeichelt ihr, dass er seine gleichaltrige Freundin für sie verlassen hat. Er verkörpert etwas, das sie verlassen und hinter sich gelassen meinte. Er, der Mann der mehr will, aber es nicht bekommt, schafft es, Brücken zu schlagen. Verbindungen zu ihren ganzen literarischen Werken. Die Distanzierung passiert mit dem Verfassen ihres Werkes über ihre damalige und heimliche Abtreibung („Das Ereignis“).

Annie Ernaux, die anhand ihrer Fotografien, Erinnerungen und dem Schreiben an ihre Schwester immer sehr ehrlich in ihr Leben schaut, schafft es erneut, durch die sprachliche Reduktion Großes zu erzeugen. Sie schaut in ihren bisherigen Werken auch auf ihren Vater oder ihre Mutter und erzeugt durch ihre minimalistischen Texte stets eine enorme und emotionale Wirkung. „Der junge Mann“ verbindet nun ihre vorherigen Werke auf kurzweilige Weise. Kunstvoll und sehr pointiert ist dieses Büchlein geschrieben. Ein Werk wie eine Befreiung. Denn auch der junge Mann will Kinder, möchte besitzen, erträgt aber ihre Schönheit nicht und es kommt zum Bruch. Der Blick auf den Bildungsweg als Befreiung ist keine bloße Wiederholung ihrer Aussagen und Berichte. Die intime Sicht ist stets politisch und bricht mit gesellschaftliche Tabus. Ein kleines und doch erneut ein großes Werk von Annie Ernaux. Aus dem Französischen von Sonja Finck übersetzt.

Zum Buch in unserem Onlineshop

Weitere Lesetipps von mir und tolle Gäste auf YouTube: Leseschatz-TV

Hinterlasse einen Kommentar

Eingeordnet unter Erlesenes

Hinterlasse einen Kommentar