John Vercher: „Wintersturm“

Dieser Roman ist eine Wucht und schafft es durch die Handlung und die Sprache einen Kosmos aus Rassismus zu öffnen. Die Handlung und die Sprache spielen miteinander und passen sich jeweils authentisch der Figurenzeichnung an. Es ist der Debütroman von John Vercher, der den amerikanischen Originaltitel „Three-Fifths“ hat und von Wolfgang Franßen übersetzt wurde. Diese „Drei-Fünftel-Klausel“ war 1787 ein Kompromiss zwischen den Süd- und Nordstaaten. Dabei wurde festgelegt, dass jeweils drei von fünf Sklaven bei der Volkszählung sowohl für Steuerzwecke als auch bei der Sitzzuteilung im Repräsentantenhaus mitgezählt werden sollten. Die daraus resultierende Entwicklung, dass jedes Leben, jedes Schwarze Leben (Black Lives Matter) zählt, ist die Grundidee des Romans. Tituliert wurde das Buch als Kriminalroman ist aber ein für den Verlag typischer Text, der über einen klassischen Krimi hinausgeht.

Pittsburgh im Jahr 1995 und der Strafprozess gegen O. J. Simpson beherrscht die Medienlandschaft. Der zweiundzwanzigjährige Bobby Saraceno jobbt in einem Gastronomiebetrieb. Eines Abends im Winter, nach Feierabend, steht er im Hof mit einem Kollegen und sie sehen dort eine unheimliche Gestalt. Ein großer Weißer sitzt dort auf der Ladekante seines Pick-ups und beunruhigt durch seine Präsenz Bobby und den Kollegen. Doch ist es Bobbys Freund Aaron, der gerade aus der Haft entlassen wurde und sich innerhalb der drei Jahre Haft sehr verändert hat. Sie waren beste Freunde und sammelten in jüngeren Jahren Comics. Aaron war oft auf der Suche und dadurch ein sogenannter Wigger, ein Weißer, der das Verhalten, die Ausdrucksweise und den Kleidungsstil Schwarzer imitierte. Wegen Drogendelikten kam er ins Gefängnis und wurde dort misshandelt und verbat Bobby, ihn zu besuchen.

Jetzt, drei Jahre später, in der Nacht ihres Wiedersehens, zeigt sich, wie sehr Aaron sich radikalisiert hat. Seine Kleidung, die Erscheinung und seine Tätowierungen sprechen eine eindeutige Sprache. Er ist ein weißer Rassist geworden. Am Abend ihres Wiedersehens kommt es zu einer Katastrophe, die den Ausgangspunkt der ganzen Handlung darstellt. Beide organisieren sich gemeinsam zu später Stunde etwas zu essen. Dabei geraten sie an einen jungen Schwarzen, der sich durch das Gebärden von Aaron angegriffen fühlt. Es kommt zu einer Auseinandersetzung, bei der Aaron mit einem Ziegelstein den jungen Schwarzen brutal auf den Kopf schlägt. Bobby und Aaron brechen, ohne sich um den Verletzten oder Toten zu kümmern, sofort auf.

Dies ist der Auftakt der eigentlichen Geschichte. Bobby muss sich seinen Dämonen stellen, denn er ist an der Tat beteiligt und hat nicht eingegriffen oder sich gestellt. Erzählt wird nun aus verschiedenen Perspektiven der ganze Kosmos um die Charaktere und der Weg zur Gewalt und zum Ungleichgewicht der Gesellschaft. Dieser Noir-Roman wirft den „Menschlichen Makel“ von Philip Roth als Krimi auf die Straße. Dieser Kriminalroman ist eine Milieustudie um den amerikanischen Rassismus. So wie Aaron anfänglich die Schwarzen imitierte, gibt sich Bobby als Weißer aus. Bobby hat seine Identität verborgen, auch vor seinem besten Freund, er ist ein gemischtrassiger Schwarzer.

Der Wintersturm verdichtet sich gleich den Geschichten um die Charaktere und es wird ein Wirbelwind um den alltäglichen Rassismus und um die Lügen des Lebens. Ein fesselndes, brutales und authentisch wirkendes Werk, das ein düsteres, erschreckendes Gesellschaftsbild zeigt. Dieses Bild wird im Roman lediglich gemalt und die Bewertung passiert im Kopf und Herzen des Menschen vor den Zeilen.

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