Die Werkausgabe von James Tiptree Jr.

Ein Gesamtwerk, das süchtig macht. Wenn man sich auf dieses Leseabenteuer einlässt, ist es ein längerer Vorgang, der aber enorm viel Spaß macht und sich mehrfach lohnt und auszeichnet. Es ist die Frau, die hinter den Werken steht, die begeistert. Als James Tiptree Jr. Ende der 60er-Jahre seine ersten Geschichten veröffentlichte, waren die Literaturwelt und besonders die Leser von Science-Fiction-Geschichten begeistert. Nur ein Mann könne sich so in die Materie einarbeiten und so frech und frei schreiben. Besonders der männliche Blick auf die Frau und das sexuelle Verständnis bestätigte das Maskuline. Als dann das Gerücht aufkam, es könne eine Frau sein, die schreibt, wurde „er“ von Weggefährten verteidigt. James Tiptree Jr. ist das Pseudonym von Alice B. Sheldon, die mehrere Namen annahm, um sich von ihrer eigenen Rolle zu befreien. Natürlich auch, um sich in einem männerdominierten Genre behaupten zu können, denn was wisse ein Frau von technologischer Entwicklung? Natürlich nahm sie auch das Pseudonym an, damit sie eine bessere Chance hatte, verlegt zu werden. Tiptrees Identität faszinierte die Fans und gab Anlass zu Spekulationen, es glaubten alle, sie sei ein Mann und die spätere Aufdeckung war ein Ereignis.

Alice Bradley Sheldon (* 24. August 1915 in Chicago, Illinois; † 19. Mai 1987 in McLean, Virginia, USA) veröffentlichte mit 51 Jahren ihre ersten Erzählungen, die hart, frech und ungewöhnlich waren. Sie selbst hatte ein außergewöhnliches Leben. Sie wächst in einer vermögenden Familie in Chicago auf und verbringt Teile ihrer Kindheit in Afrika. Ihre Mutter ist als Schriftstellerin angesehen und vermittelt ihrer Tochter wohl das Kreative. Denn Alice Bradley Sheldon wird Malerin und Kunstkritikerin. Im Zweiten Weltkrieg tritt sie in die US-Armee ein und arbeitet für die CIA. Später promoviert sie in Psychologie und beginnt zu schreiben. Die amerikanische Journalistin Julie Phillips hat die  Biografie über sie geschrieben, die Teil der Gesamtausgabe ist und unglaublich faszinierend und spannend zu lesen ist.

Das Werk von Alice Bradley Sheldon aka James Tiptree Jr. ist meist der Science-Fiction-Literatur entsprungen. Ihre Texte sind aber von einer Andersartigkeit, Dichte und voller Humor, dass sie über das Genre hinaus verstanden werden können. Auch Kafka schrieb fantastische, skurrile Texte und wird als Klassiker gesehen. Tiptree sollte mit ihren Texten auch so verstanden werden. Denn das Zukünftige und Ferne der SF-Literatur bietet einfach mehr Spielraum und kann das Tatsächliche einfach noch mehr verzerren und überspitzt wiedergeben. Der Humor ist ein trockener und zuweilen schwarzer, denn oft enden die Geschichten tödlich. Bei humorvollen Zukunftsgesängen denkt man an Douglas Adams, der genauso viel Spaß macht, aber dann doch neben Tiptree nicht bestehen bleiben kann, denn sie blödelt nicht nur einfach, sondern vertieft ihr Können in Psychologie, Politik und Literatur. Ihr Debüt war die Geschichte eines Mannes, der im Auftrag der Erde selbst, sich opfert, um die Erde von der Menschenplage zu befreien. Ihre Betrachtungen sind urkomisch, weil sie uns einen Spiegel vorhalten. Sei es in einer Raumfahrtbehörde, wo die pure Bürokratie die Handelsrouten lähmt. Ein Planet, der von uns Terranern als Rennbahnen-Planet an Renntiere der gesamten Galaxie vermietet oder jene Geschichte, die ihren Ruhm ausmachte „Houston Houston bitte kommen!“, in der ein irdisches Raumschiff mit ausschließlich männlicher Besatzung in der Zukunft kurz vor der Erde feststellt, dass sich auf der Erde nur noch Frauen befinden. Sie spielt mit Feminismus in der Rolle als Mann und schreibt Phantastisches, zuweilen auch Abenteuerliches, wie „Quitana Roo“ und spielt mit Wissen und Philosophie. Gleich ihre ersten Geschichten erzeugen eine Faszination. Geschichten, die weit über die Zeit strahlen und eine Gültigkeit haben. Auch ihre Figuren bekommen dies zu spüren, denn eine außerirdische Bestrafung kann eine individuelle Verschiebung der Zeit bedeuten.

Sämtliche Erzählungen sind in sieben Bänden erschienen und sind chronologisch geordnet. Ferner beinhaltet das Gesamtwerk die oben genannte Biografie und zwei Romane. Einen Zusatz gibt es noch in dem Buch „Wie man die Unendlichkeit in den Griff bekommt“. Hier befinden sich, neben ihrer Lyrik, Essays und Briefe. Zum Beispiel der Briefwechsel zwischen James Tiptree Jr. und Ursula K. Le Guin.

Ihre Werke, Texte und Ansichten verändern die eigene Sicht und machen nebenbei unglaublich viel Spaß. An die Schulen gerichtet: Tiptree versuchen, es gibt viel zu besprechen, zu erleben und zu lachen. An alle Lesenden sei der Aufruf gestattet: los, Tiptree lesen!

Weitere Lesetipps von mir und tolle Gäste auf YouTube: Leseschatz-TV

Hinterlasse einen Kommentar

Eingeordnet unter Erlesenes

Hinterlasse einen Kommentar