Marie Darrieussecq: „Das Meer von unten“

Marie Darrieussecq schaut in ihren Werken stets ganz genau hin beziehungsweise hinein. Ihre Romane sind verknappte Großwerke. Zuletzt ließ sie uns durch „Hiersein ist herrlich“ in das Leben von Paula Modersohn-Becker schauen. „Das Meer von unten“ ist ein kluger und zeitloser Text mit aktuellen Themen. Es geht um die Frage des Rechtes nach Wohnort und Gastfreundschaft. Marie Darrieussecq hat Jahre für diesen Roman benötigt, denn es fiel ihr schwer, sich mit ihren Erfahrungen zu beschäftigen. Sie hat über einen langen Zeitraum mit vielen Migranten gesprochen und diese Geschichten, Erlebnisse und Traumata verinnerlicht. Im Mittelpunkt steht eine Frau, die nichts Heldenhaftes hat, aber sich dann doch, gleich dem Bowie-Motto „We can be Heroes. Just for one day“, auf das kommende Drama einlässt.

Ihre Mutter hat sie zu dieser Kreuzfahrt überredet. Es soll eine Auszeit zu Weihnachten sein, denn Rose ist Psychologin und es kostet sie viel Kraft, in der Familie zu agieren. Ihre halbwüchsigen Kinder leiden entweder unter mannigfaltigen Allergien oder sind typische Teenager. Ihr Mann ist Immobilienmakler, der aufgerieben wird und seinen Frust im Weinglas ertränkt. Hierbei wird bereits das Thema des Romans verdeutlicht. Der Lebensraum zeigt sich vielfältig im Pariser Schick, in der Stadtplanung, der Länderflucht aus Armut, Verfolgung, Misshandlung oder aus politischen Gründen und in jenem schwimmenden Hotelkomplex im Mittelmeer, auf dem die Handlung beginnt.   

Rose macht über Weihnachten mit ihren beiden Kindern jene Mittelmeerkreuzfahrt. Die Erholung wird unterbrochen durch das Kentern eines Flüchtlingsbootes und Rose wird Zeugin, wie die Mannschaft ihres luxuriösen Passagierschiffes die Überlebenden rettet und aufnimmt. Auch ein Toter ist dabei und das Gesehene erweckt in Rose Hilfsbereitschaft. Sie ist Psychologin und möchte nicht, wie die meisten, Beobachterin sein. Der Kontakt zu einem jüngeren Flüchtling namens Younès, der sie an ihren Sohn erinnert, beflügelt ihren Tatendrang. Es beginnt mit einem Handy, das sie ihm überlässt. Das Handy ist für den einen eine Kommunikationshilfe, für andere Spielzeug oder Statussymbol. Die Überlebenden bleiben kurz an Bord, bis die italienische Küstenwache eintrifft. Die Gedanken von Rose kreisen seitdem beständig um das Erlebte und ihre spontane und andauernde Hilfsbereitschaft verändert ihr Leben und das ihrer Familie. Die Blickwinkel ändern sich im Hinblick auf das Weltgeschehen und auf das Leben und die Reaktionen der Mitmenschen.

Dieser Roman ist voller Empathie geschrieben und mit einer literarischen Ausstrahlung, wie sie nur  Marie Darrieussecq zu erzeugen vermag. Ein Roman, der fragt, wer das Recht hat, wo zu leben. Aus dem Französischen wurde der Roman von Patricia Klobusiczky übersetzt.

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