Cherie Jones: „Wie die einarmige Schwester das Haus fegt“

Wie aus weiter Ferne lockt dieser Roman uns in ein Paradies, das nur aus der Distanz ein Traumland zu sein scheint. Der Blick geht tief und gleich Schlägen prasselt der Inhalt und die Sprache auf den Lesenden ein. Die schöne Kulisse von Barbados wird Schauplatz für einen Choral aus Gewalt. Gewalt vordergründig ausgeübt an Frauen über Jahrzehnte hinweg. In einem kleinen Küstenort treffen reiche Menschen, die Villen am Strand besitzen, und Reisende auf Menschen, die schon lange in Armut leben. Somit ist der Ort nur für die Vermögenden und Touristen ein Traumziel. Für die einen somit ein Paradies und für die Anderen ein Fleck Erde, in dem sich ihre Not entfaltet und auf den eingeführten Reichtum trifft. Es kommt somit zu Konfrontationen, die zu Katastrophen führen. Die Handlung spielt hauptsächlich an einem Strandabschnitt von Baxter´s Beach und erzählt die Geschichte von Lala. Durch verschiedene Perspektiven und Sprünge in die Vergangenheit werden die Tragweite der Geschehnisse für die agierenden Charaktere und der Ursprung der Gewalt verdeutlicht. Ein Roman, der uns durch seinen kriminellen Spannungsbogen fesselt und durch die Dichte und Nähe zu den Figuren aufzurütteln versteht.

Das großartige und erbarmungslose Werk stand auf der Shortlist Women´s Prize for Fiction und hat den Deutschen Krimipreis gewonnen. Übersetzt wurde der Roman aus dem Englischen von Karen Gerwig. Durch die Handlung und die distanzierte, aber enge Sprache baut sich eine Stimmung auf, der sich der Lesende wohl kaum entziehen kann. Die Geschichte, die dem Werk den Titel gibt, basiert auf einer Warnung der Eltern an die Kinder. Wer sich seiner Neugier hingibt und sich der Unterwelt nähert, kann in diese gerissen und verschlungen werden. Ungehorsam gegenüber den Eltern und den Ehemännern kann ins Verderben führen, so die bildreiche Warnung an die Kinder. Doch für Lala klingt dies verlockend und birgt einen Hauch von Freiheit. Später haben sich die Befürchtungen der Großmutter und Mutter bewahrheitet. Lala taumelt und lebt im Abgrund und ihr Mann buhlt mit dem Verbrechen.

Adan ist ein Krimineller, der in einem Umfeld agiert, in dem Einbruch, Drogenhandel und Prostitution auf der Tagesordnung stehen. Er gerät in einen Strudel, als ein Einbruch in einer Strandvilla aus dem Ruder läuft und er dabei jemanden ermordet. Gerade in der Nacht, in der seine Frau Lala ein Kind blutig zur Welt bringt. Er ist kein sorgender Ehmann, sondern neigt auch in der Ehe zu Wutausbrüchen. Ein späterer und sinnloser Streit führt auch zum tragischen Tod des gemeinsamen Babys. Dies ist der Auftakt des Romans, in dem im Mittelpunkt Lala steht, die durch die Ereignisse hofft, dem Kreislauf zu entkommen. Aber ihre fast noch kindliche Art und die Ehe mit Adan binden sie an die Armut und die Gewalt. Wie die weiblichen Generationen vor ihr.

Ein ergreifender Roman, der uns hinter die vermeintliche Schönheit eines Paradieses blicken lässt. Das Werk ist eindringlich und authentisch geschrieben und entfaltet eine enorme emotionale Wirkung beim Lesen. Liebe, Verbrechen und Klassenunterschiede treffen hier sehr explosiv und literarisch aufeinander.

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Neues aus der Lyrikschatzkiste II

Lyrik ist eine Gattung der Literatur, die in der Verknappung durch das gezielte Wort, den Rhythmus und die Form Inhalte vermittelt. Es ist eine Kunstform, die durch die Reduktion ein Mehr erzeugt. Gedichte sind somit Werke, die wie von einem Steinmetz vom überfüllten Umfang befreit werden und lediglich das Wesentliche bestehen lassen. Dadurch ist die Lyrik nicht immer zugänglich, nicht immer ad hoc verständlich. Sie ist wie ein Samen, der gelesen langsam im Lesenden keimt und wachsen kann. Gedichte können dabei zu Bergen wachsen, Brocken werden, die es zu erklimmen gilt, um dann am Ende auf uns selbst zu blicken. Dies schreckt leider allzu oft ab und die Lyrik wird innerhalb der Buchwelt zu wenig beachtet. Denn es macht Spaß, sich den Wortklängen und Spielen hinzugeben. Gottfried Benn schreibt in einer Zeile: „Die Jahre halten ohne Schnee und Frucht bedrohend das Unendliche verborgen“ (Verlorenes Ich). Diese Weltflucht kann zeitgleich aber auch ein Einladung sein, die Welt etwas besser zu erfassen. Gedichte sind meist mehr mit dem Herzen als mit dem Kopf aufzunehmen. Es klingt etwas verkitscht, aber Lyrik ist meist eingefrorene Emotion, die im Betrachter innwendig schmilzt und das eigene Erlebte mit dem des Verfassers verschmelzen lässt.

Folgende Werke möchte ich zum Jahresausklang erwähnen:

Lina Atfa „Grabtuch aus Schmetterlingen“. Gedichte in Arabisch und Deutsch. Übersetzt und nachgedichtet aus dem Arabischen von Brigitte Oleschinski und Osman Yousufi. Mit einem Vorwort von Jan Wagner. Schmetterlinge als mythische Lebewesen, die durch ihre Verwandlung für einen Neuanfang stehen und seit jeher als Metapher für die Seele stehen, werden laut dem Titel mit einem Grabtuch, nach seiner letzten Erscheinungsform, zugebettet. Diese Gedichte haben einen enormen und tiefen Sprachklang und die Texte berühren und spannen einen Bogen über Krieg, Flucht und die Ankunft bei Nachbarn. Diese Lyrik schaut auf sich selbst, um zu der Erkenntnis zu kommen, dass Literatur sich mit dem Umfeld und der persönlichen Geschichte wandelt. Aber gerade dies muss der Literatur wiederum egal sein. Es tauchen bekannte Persönlichkeiten auf, wir erlesen Anekdoten, Geschichten und Humorvolles. Eine Nähe und eine Distanz verweben sich miteinander. Die Vergangenheit tanzt mit der Jetztzeit und legt ein passendes Corona-Gedicht anbei.

Ásta Fanney Sigurðardóttir „Ewigzeit“. Zweisprachige Ausgabe. Aus dem Isländischen übertragen von Jón Thor Gíslason und Wolfgang Schiffer. In den Isländischen Gedichten taucht man meist ein in eine klangvolle Märchenwelt, die uns dabei unsere Welt vor Augen führt. Nordische Mythologie und Sagen treffen auf den ewig verletzenden Menschen. Ein Wechselspiel zwischen Wirklichkeit, Traum und Albtraum. Diese Lyrik bietet auch Popkultur an und erklingt wie fixierte Songtexte, die auf eine Vertonung warten. Der eigene Kosmos, die selbst geschaffene Wirklichkeit sind oft eine Illusion, die den Träumenden nach dem Erwachen noch in den Gliedern steckt. Ein Klangraum voller Wunder.

Jacqueline Thör „Der Mensch und das Meer“. Jacqueline Thör verknappt ihre Kunst immer mehr und erzeugt dadurch einen Resonanzraum im Lesenden. Hier wird sich gänzlich auf das Minimalistische und das Wesentliche beschränkt und gerade dadurch erklingen die Worte länger nach. In den Bildern steht das von Menschen Geschaffene der Natürlichkeit gegenüber. Lyrik, die uns einlädt, einen Berg zu besteigen um sich selbst zu erblicken. Alles ist erneut rhythmisch, klangvoll und stilistisch durchdacht. In der Einfachheit versteckt sich oft ein Gedanke, der aufblitzt und erst später erhellend nachhallt. Einiges ist leicht verspielt und es macht viel Spaß, immer wieder in das Büchlein hineinzublicken.

Jedes Jahr bringt der Schöffling Verlag das Jahrbuch der Lyrik heraus. Die Ausgabe 2022 wurde von Matthias Kniep und Nadja Küchenmeister herausgegeben. Dieses Buch ist für seiende und werdende Lyrikliebhaber ein Pflichtkauf. Das Buch schreitet die poetischen Landschaften des deutschsprachigen Raums ab. Ein Klangraum voller Entdeckungen. Diese Anthologie bietet einen Einblick in das, was nur Lyrik alljährlich vermag.

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Marlen Schachinger Hrsg.: „Wort an Wort: Berührung“

Eine Anthologie mit Kurzgeschichten, die kunstvoll die Welt neu ausloten. Literarische Berührungen, die uns Wort für Wort unsere alltäglichen Lebenswelten am Beispiel eines Dorflebens aufzeigen. Lebenswelten, die in der Jetztzeit sehr fragil geworden sind. Dorf- und Landflucht stehen dem Wachstum der Städte gegenüber. Das Dorf als heimelige Metapher. Doch was ist Heimat? Acht Autorinnen und Autoren blicken in das Dörfliche, in dem sich das Weltliche verbirgt. Die Geschichten leben von aktuellen Inhalten und einem enormen Sprachklang. Der Wandel der Zeit ist beständig in den Zeilen spürbar. Eine Gesellschaft, die sich im Dörflichen wiederfindet.  

Das Dorf als Sehnsuchtsort oder als Portal zu Parallelwelten bietet in dieser Sammlung genug Raum für persönliche Reflektion. Ein Ort lebt von der Gemeinde, der Gemeinschaft und gerade die Gegenwart belegt, wie brüchig viele Gefüge geworden sind. Äußere Umstände erzwingen Veränderung, die oft mit individuellen Schicksalen verbunden sind. Der persönliche Schrecken, zum Beispiel durch Flut, Dürre oder Krieg ausgelöst, darf sich nicht unseren Blicken entziehen. Dies sind Geschichten, die einer Flüchtigkeit trotzen wollen.

In einer Geschichte geht es um sogenannte Lost Places. Es gibt einen Kult um solche Orte. Die Schönheit des Verfalls und die Romantik des Untergangs sind stets eine Frage der Perspektive. Kult für den, dessen Welt nicht gerade aus den Fingern rinnt.

In weiteren Erzählungen geht es um die Farben, die Gerüche der Ortschaften. Die hiesigen Pflanzen und der Geschmack der angebauten Nahrung innerhalb der Lebensräume. Auch Steine sind Botschafter und können Mitteilungen offenbaren, gleich dem unterschiedlichen Lichteinfall der Tages- und Jahreszeiten. Orte werden hier betrachtet, die Zeiten und Geschichte durchlaufen. 

Wir durchqueren mit dem Buch Wahres, Erträumtes und treten mit den Zeilen in einen inneren Dialog. Dies passiert stets beim Lesen und weckt Verständnis und Empathie. Daher ist der kleine Mittelteil etwas befremdlich, in dem der Lesende zu den Texten befragt wird und zu einer Interaktion eingeladen wird.

Das Buch bietet großen Raum für Entdeckungen und ist ein kleiner Schatz. Die Autorinnen und Autoren sind: Isabella Straub, Sara Milena Schachinger, Sofie Morin, Marlen Schachinger, Daniel Zipfel, Sophie Reyer, Clarissa Lempp und Bettina Schwabl.

Ein Reigen an aktueller Literatur, die die Dörflichkeit fixiert und nach dessen Beständigkeit fragt. Ein Blick in den Mikrokosmos und somit in den Makrokosmos unserer Gegenwart.

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Paul Auer: „Mauern“

Erneut verzaubert uns Paul Auer mit seinem neuen Roman. Der Inhalt, der durch eine tolle Sprache erzählt wird, offenbart Figuren, die wir teilweise aus dem vorherigen Werk des Autors kennen. Die Handlung kann am Besten als tragikomisch und als fantastischer Realismus bezeichnet werden, ist aber vorrangig ein kluger und irrer Ritt. Die Charaktere öffnen für sich und für den Lesenden unsichtbare Mauern. Dies ist der dritte Roman von Paul Auer, der wohl sein bisher stärkster ist. Wie bereits im Roman „Fallen“ wird hier einiges wahrlich heraufbeschworen und der Wahrhaftige greift ein. Wenn der Teufel sein Spiel macht, kann wohl nicht alles sich zum Guten wenden. Nebenbei geht es auch um den Schreibprozess und den Wunsch, ein bleibendes Werk in der Literaturwelt zu hinterlassen. Um so ein „Weltbuch“ zu verfassen, ist wohl mancher bereit, seine eigenen Grenzen nach Belieben auszudehnen.

Ein junger Schriftsteller, der in ärmlichen Verhältnissen mit seiner Literatur ringt. Dann hat er Erfolg, sein Debütroman feiert Erfolge und er erbt. Nun ist sein Ego angefeuert und wächst ungebremst. Er ruht sich auf dem Erfolg in einer geräumigen Luxuswohnung aus. Auf dem Balkon mit einem gepflegten Weinbrand und dem Blick auf die alte Schreibmaschine wird ihm einiges bewusst. Eine Frau an seiner Seite fehlt. Nicht irgendeine, sondern die angebetete Exfreundin, die ihn verlassen hatte. Auch die Idee für einen weiteren Roman lässt auf sich warten. Seine Ruhmsucht und sein Ego verlangen den weiteren Rausch und diesen erhält er durch den unerwarteten Besuch. Kein Geringerer als Luzifer und seine Begleitung. Dies ist doch der Stoff, aus dem die literarischen Träume erwachsen können. Ein Weltbuch soll geschrieben werden, um den Lichtbringer ins rechte Licht zu rücken. Als Dank für das sensationelle Werk soll jene verflossene Freundin zurückgewonnen werden.

Ein fantastisches Werk voller Sog- sowie Zugkraft und Raffinesse. Die Triebkraft der Kreativität und Größenwahn buhlen im Ego des Agierenden und stoßen uns in eine kurzweilige und lohnenswerte Lektüre.

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Johannes  Groschupf: „Die Stunde der Hyänen“

In diesem Spannungsroman, der eher eine Gesellschaftsstudie ist, läuft man mit dem Protagonisten in die Dunkelheit, in die schmutzigen Machenschaften der Gesellschaft. Wie Hyänen, die ihren tierischen Trieben in der Großstadt freien Lauf lassen. Ein rasanter Roman, der kurzweilig die Gesellschaft am Beispiel Berlins mit seinen schaurigen Schattenseiten darstellt. Ein typischer Großstadt-Noir-Roman vom preisgekrönten Krimiautor Johannes Groschupf. Teilweise überspitzt und die eigentliche Tätersuche für den Lesenden klärt sich bereits am Anfang. Darum geht es im Buch auch nicht. Das Buch ist pure Unterhaltung mit dunklem Gesellschafts-Thrill.

Es beginnt mit einem Brandanschlag auf einen Bulli, in dem ein ehemaliger Fernfahrer wohnt. Er ist obdachlos, weil er seine Arbeit durch einen tödlichen Unfall verloren hat. In Berlin geht ein Feuerteufel um, der seine Lust auf diese perfide Weise befriedigt. Um diese Geschehnisse lauern Charaktere, die wie Hyänen durch die dunklen Orte streifen. Eine Polizistin, die aus disziplinären Gründen zum Dezernat für Branddelikte versetzt wurde. Eine Journalistin, die eine besondere Gabe hat und von ihrem Mann geschlagen wird. Ein Auszubildender bei der Post, der in einer sektenartigen Gemeinschaft lebt und verliebt ist in eine Frau, die innerhalb dieser Sekte missbraucht wird.

Die Spannung entsteht durch Charaktere und nicht durch die Tätersuche. Berlin als Großstadtmetapher, in der ein hochexplosives Gesellschaftsgemisch angezündet wird. Schlicht, aber nicht simpel, sondern ergreifend erzählt. Ein Roman, der ziemlich schnell die Charaktere lebendig werden lässt und das ganze Setting zum Brodeln bringt. Ein heißer, dunkler Tipp.

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Helle Helle: „SIE und BOB“

Die dänische Meisterin des minimalistischen Erzählens ist mit zwei Romanen, die in der Deutschen Übersetzung als ein Buch erscheinen, zurück. Ihre Werke sind voller stiller Geschichten, die, wenn man nicht aufpasst, in ihrer Fülle sang- und klanglos vorbeirauschen könnten. Man muss Helle Helle zuhören und ganz genau in die Schilderungen hineinhorchen, um alles im Roman erfassen zu können. In der sprachlichen und inhaltlichen Reduktion versteckt Helle Helle emotionale und kluge Kniffe, die das Dramatische langsam erklingen lassen.

Sie sind Mutter und Tochter.  Aber auch das ganze Umfeld. Bob kommt auch in „Sie“ bereits im Freundeskreis vor, um dann im zweiten Teil, d.h. Roman, die Hauptfigur zu werden. Aber beide Geschichten drehen sich um sie, die Tochter, die stets im Mittelpunkt steht. Da die Präsenz der Namenlosen, der Ich-Erzählerin, auch bei Bob raumeinehmend ist, lässt sich hier ein groß angedachter Romanzyklus vermuten. Im zweiten Teil erzählt sie von Bob und ihrem gemeinsamen Leben und besonders von den Erlebnissen, woran sie selbst nicht teilhat.

Das kindliche, leichte Leben verläuft sich für die Erzählerin als die Mutter sagt, sie habe wohl einen Stein verschluckt. Die Krankheit der Mutter lässt diese nur noch wenig Nahrung zu sich nehmen und die Kraft schwindet im Verlauf der Handlung immer mehr. Die Diagnose wird genannt und es sind nur noch wenige Wochen, die die beiden zu haben scheinen. Somit ist der Alltag ein Abschiednehmen. Doch bleibt die Mutter im Roman gegenwärtig und sie verlässt das Buch nicht. Somit ist es ein Alltag einer Schülerin, die in den 80ern aufs Gymnasium geht und Freunde trifft, die Liebe kennenlernt und versucht, ihren Schmerz und den drohenden Verlust in Worte zu kleiden.

Später ist es Bob, den sie aus ihrem Freundeskreis kennt, dessen Perspektive der Roman wiederum aus ihrer Sicht einnimmt. Sie sind ein Paar und wohnen in Kopenhagen. Während sie weiß, was sie will und die Lebensziele zukunftsorientiert erahnt, mäandert er noch in seiner Selbst-und Sinnfindung. Er treibt im wahrsten Sinne durch die Gassen und Straßen der Küstenstadt, bis er einen Job findet. Nebenbei richtet er die kleine, aber gemeinsame Wohnung ein und wünscht sich eine Zukunft mit ihr.

Die Krisen und das Dramatische blitzen in den kurzen Sätzen lediglich auf. Die Sprachmelodie und das Weggelassene erzeugen einen großen Resonanzraum im Lesenden. Mit enorm leisen Tönen wird hier ein Crescendo aufgeführt. Helle Helles Romane verlangen ein aufmerksames Lesen und Einfühlen, um das Erzählte erfassen zu können. Mit viel Empathie und Tiefgang werden die Charaktere skizziert. Ein großer Roman, der mit wenig Handlung Großes zu erzählen versteht. In der Kleinigkeit, aber niemals Nichtigkeit, versteckt sich das Eigentliche. Die Übersetzung stammt von Flora Fink.

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Tschabua Amiredschibi: „Data Tutaschchia“

Dieses Heldenepos über einen Freiheitskämpfer zählt in Georgien zu den bekanntesten Werken der Gegenwartsliteratur und wurde mit dieser Ausgabe erstmals ins Deutsche übersetzt. Eine fiktive Räubergeschichte aus dem Kaukasus, die auf Weltgeschehen hinzudeuten vermag.

Tschabua Amiredschibi hat diesen Roman in Haft erdacht und seinen eigenen Freiheits- und Unabhängigkeitswunsch in dieser Literatur verewigt. Er lebte von 1921 bis 2013 und wurde Opfer des stalinistischen Terrors und 1944 verhaftet. 1960 kehrte er aus seiner Verbannung zurück und unterstützte in Folge die Unabhängigkeitserklärung Georgiens. 1992 wurde er ins georgische Parlament gewählt. Sein Roman „Data Tutaschchia“ hat Kultstatus und wurde nun von Kristiana Lichtenfeld übersetzt.

Data Tutaschchia ist ein Name, der bereits legendenhafte Anspielungen verbirgt, wie sich einer der zahlreichen Anmerkungen im Anhang und der kleinen Vorgeschichte entnehmen lässt. Die persönliche Tragik der Lebensgeschichte des Autors und die brutale Politik sind die Antriebskraft dieses umfangreichen, aber großartigen Romans. Der Erzähler erhält eine Vielzahl von Manuskripten, die ihm der Graf Szegedy, Hauptmann der damaligen Gendarmerie, nach dessen Ableben hinterlassen hat. Diese Schriftstücke sind die Grundlage für die Geschichte des Räubers und Freiheitskämpfers Data Tutaschchia. Somit wird die Geschichte durch verschiedene Textarten, Perspektiven, Anekdoten und Berichte erzählt. Data Tutaschchia wurde gezwungen, als Abrage, als Freiheitskämpfer, in die Berge zu gehen. Er tötete, da jemand seiner Schwester gegenüber einen unehrenhaften Schritt unternommen hatte. Nach der Flucht folgen Vernehmungsprotokolle oder Berichte über den Versuch, den Abragen dingfest zu machen. Es ist das Jahr 1885 als Data Tutaschchia in den Untergrund geht. In Georgien, Teil des Russischen Zarenreiches, toben die Vorboten der Oktoberrevolution. Doch die Politik ist nicht von Interesse für den edlen Räuber, sondern eher die Ungerechtigkeit und die Käuflichkeit der Menschen. Durch seine Taten wird er vom Volk bewundert und verehrt. Er hilft einem Bauern, der sich dann doch als undankbar erweist, aber dadurch den Tatendrang von Data Tutaschchia entfacht. Er ist kein politischer Revolutionär, aber ein freiheitsdenkender Räuber.

Data Tutaschchia schlägt sich in der Landwirtschaft durch und erhält dadurch oft Unterschlupf. Er greift stets ein, wenn den Menschen Ungerechtes passiert. Zum Beispiel in einem Dorf, in dem die Menschen im Bergwerk tätig sind, aber doch hintergangen werden. Stets ist er ein gerechter Rächer. Besonders bei Wucherei, Ausnutzung oder Verlogenheit. Besonders die Bestechlichkeit der Polizei und der Regierungen geraten dabei in den Fokus. Dabei gerät er immer mehr in den Blickwinkel seiner Widersacher.

Die Perspektiven wechseln wie die Ortschaften. Dadurch verdichtet sich die Handlung immer mehr. Die ganzen Akzente der Erzählungen um den Freiheitskämpfer werden dramatischer und politischer. Die Lebensgeschichte des Autors und die revolutionäre Stimmung der damaligen Zeit verbinden sich zu einem phantastischen Roman. Alle Berichte und Passagen sind sehr lebendig erzählt und voller lebensnaher Figuren, die hier und dort das Erzählte auszuschmücken verstehen. Alles ist aber so gekonnt ausgewogen und literarisch fixiert, dass man hier tatsächlich von einem Meisterwerk sprechen darf.

Dies ist kein verklärtes Heldenepos, sondern eine Geschichte, die auf vielen Ebenen auf die Geschichte und auf das Gegenwärtige hindeutet.

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Neues aus der Lyrikschatzkiste I

Lyrik ist Wortspiel, Verknappung und Verdichtung des zu Sagenden und der transportierten Emotionen. Gedankenspiele und Bilder werden durch Laut, Rhythmus und Form zu einem persönlichen Einblick und Erlebnis.

In diesem Beitrag sollen drei Bände in Kurzform erwähnt werden, die gänzlich unterschiedlich sind und doch von der Konzeption Ähnlichkeiten aufweisen. Der Lebensfluss, der körperlich wird, um dann vergeistigt im Text auszuklingen.

Siljarosa Schletterer: „azur ton nähe“

Flüsse und Gewässer sind bereits oft besungen worden und tauchen beständig als Naturphänomen in der Lyrik und Literatur auf. Wasser als Lebenselixier oder als wegreißende Gefahr. Bäche und Ströme als Lebensadern der Welt. Es gibt das ruhige, klare Wasser, aber auch das überschäumende Gewässer, das Lehm und Lebensraum mit sich reißt. Diesem Kaleidoskop des Wassers spürt Siljarosa Schletterer in ihrem Band nach. Sie vertont die jeweils eigene Sprache der Fluss- und Seenlandschaft Mitteleuropas. Dabei wandelt sich das Nature Writing in einen eigenen, wässrigen Klang und wird letztendlich zu einer Nähe, die unsere Menschlichkeit miteinbindet. Siljarosa Schletterer ist Autorin und Kulturvermittlerin. Ihr ist das Verbindende stets wichtig: Musik und Sprache, Wissenschaft und Kunst, Natur und Mensch. Ihre Gegenwartslyrik wird umrahmt durch die Bilder von Franz Wassermann.

Sünne Lewejohann: „als ich noch ein tier war“

In diesem Band pulsiert eine Körperlichkeit, die eine Wehmut und Wut ausstrahlt, die nach einer toxischen Beziehung entstanden ist. Dabei gärt das Tierische im Unterbewussten der erzählenden Stimme, die Schmerz oder Zorn zu Explosion bringt. Sehnsucht nach Liebe und Abgrenzungen klingen gleichwertig nebeneinander. Der Reigen geht von der Erkenntnis Tierisches zu empfinden bis zum Abtöten des inneren Untieres. Somit ist der Weg ein Weg der Heilung nach emotionaler und sexualisierter Gewalt. Machtmissbrauch und Rollenmuster greifen ein in diese Seelenwelten, verursachen Fluchtgedanken und transferieren Trauer in Wut und letztendliche Befreiung. Abgerundet wird das Buch durch Zeichnungen der Autorin. Sünje Lewejohann, geboren in Flensburg, veröffentlichte einen Roman und ihre Lyrik wurde bereits ausgezeichnet.

J. Heinrich Heikamp: „Geradewegs gehen wir“

Das letzte Büchlein in dieser Vorstellung birgt ebenfalls einen Fluss, der eher ein Bach ist. Der Gill ist ein Bach, der sich gerne mal als Fluss tarnt. So sind auch die Gedichte und Aphorismen von Heinrich Heikamp mal verspielt naiv und dann auch wieder mit einer schlummernden Tiefe gesegnet. Es sind Verse die mit dem Lebenssinn spielen. Dabei schimmert auch zuweilen Humor durch das Geschriebene. Durch das Naive erklingt auch dabei leichte Selbstkritik und gibt der Einfachheit etwas Sympathisches. Es ist eine Reise durch das Lyrikverständnis des Autors. J. Heinrich Heikamp, Jahrgang 1964, ist Verleger, Kulturmanager und Schriftsteller.

Alle drei Werke sind Lebenswege, die Persönliches in Klangemotion verwandeln und Naturmetaphorik verwenden. Die ersten sind Gedichte, die sich durch häufigeres Erlesen erst gänzlich zu entfalten verstehen. Dabei sind diese Werke Konzepte, die jeweils als ein Ganzes zu lesen und zu verstehen sind. Denn alle eint eine Achse der persönlichen Entwicklung.

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Dinçer Güçyeter: „Unser Deutschlandmärchen“

Ein Roman mit vielen Stimmen. Ein Märchen, das die Welt bunter macht und nicht schwarzweiß malt. Es ist die Geschichte einer Familie, türkischer Griechen, die uns im Chorgesang ihre Erinnerungen vortragen. Aufgezeichnet von Dinçer Güçyeter, der den Frauen seiner Familie eine Stimme gibt und selbst auf der Suche nach Worten seine Sprache gefunden hat. Es ist ein Roman, denn wenn das Erlebte zur Poesie wird, verweben sich Erinnerung, Wahrheit mit Literatur. Der Roman ist eine lyrische Welt, die die Wahrheit in der eigenen Geschichte sucht.

Dinçer Güçyeter ist ein Sprachkünstler, dem Emotionen wichtiger sind als gekünsteltes Wissen. Wenn man ihn kennt, weiß man, in ihm schlummert Schüchternes und Extrovertiertes. Er lebt und liebt die Kunst, die Lyrik und die Kraft und die Wirkung des Wortes. Entstanden ist ein Roman in seinem ganz eigenen Klangbild, der nichts verschönt: Vergewaltigung, Missverständnisse, Armut und diverse Konflikte. Die Handlung erstreckt sich vom Anfang des letzten Jahrhunderts bis in die Gegenwart. Erzählt wird in Bildern, Träumen, Gebeten und in Monologen sowie Dialogen. Die Prosa wird dabei zur Poesie.

Dinçer Güçyeter, der für seine Gedichte ausgezeichnet wurde und Verleger ist, hat nun seinen ersten Roman geschrieben. Wie seine Sprache zur Kunst wird, werden auch er und seine Familie zu Kunstfiguren, die lebendig werden und die Geschichte von Gastarbeitern erzählen. Verwurzelt ist die Geschichte in anatolischem Leben. In der Hoffnung dem kalten Boden und der Armut zu entkommen und der Familie etwas zurückgeben zu können, wird Fatma, die Tochter von Hanife, mit einem Mann verheiratet, der sein Glück in Deutschland sucht. In Deutschland, so ist noch der Glaube, könne man den Wohlstand von den Bäumen pflücken. Die Einsicht, dass alle Menschen auf derselben Welt tanzen, wird aber auch in der Ferne entromantisiert. Der Mensch wird eingeordnet und abgestempelt. Das Lied des Buches singt von der Herausforderung als Gastarbeiter und deren Nachkommen, die in Deutschland ein neues Leben beginnen wollen. Das Fremdsein bleibt ein beständiges Gefühl, in der Sprache, den Menschen und den Gewohnheiten. Der Vater hat durch dubiose Geschäfte einen enormen Schuldenberg und seine Kneipe macht nicht genug Gewinne. Fatma arbeitet viel in den Fabriken und Feldern. Auch  Dinçer, ihr Sohn, möchte bereits als Kind seinen Teil dazu beitragen und beginnt auf den Höfen mitzuarbeiten. Später macht er eine Ausbildung als Werkzeugmechaniker, doch seine Liebe gilt den Künsten.

Ein Roman, der vieles verbindet. Kulturen und Menschen. Er öffnet Welten und lädt ein, diese besser verstehen zu lernen. Er verbindet diverse Schreibstile und Stimmen und macht das Erzählte zu etwas sehr eigenem. Ein lyrischer Roman, der ein bodenständiges Märchen erzählt, das uns von Schatten, aber auch von der Buntheit zu berichten weiß.

Dinçer Güçyeter und sein Lektor Wolfgang Schiffer

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Gökhan Göksen: „Charlotte und Fatima“

Ein aufrüttelnder Roman, der seine emotionale Wirkung immer stärker aufzubauen versteht. Was passiert, wenn das alltägliche Leben, besonders das Familienleben zersprengt wird? Am Beispiel zweier Frauen, die sich nicht kennen und lediglich einmal erblicken, geht Gökhan Göksen den Fragen nach, welchen Weg man bereit ist zu gehen, wenn einem die Liebsten genommen werden.

Die Handlung spielt in unterschiedlichen Orten und Zeiten. Von der Gegenwart bis in eine sehr nahe Zukunft blicken wir auf zwei Familien. Eine lebt in London, die andere in Kairo. Dabei schauen wir durch verschiedene Perspektiven auf die Ereignisse. Die Schilderungen sind zum Beispiel Sitzungen bei einer Therapeutin oder der Blick der Frauen auf ihren Familienalltag. Charlotte ist verheiratet und hat zwei Kinder. Der Sohn befindet sich im schwierigen Alter und verbringt viel Freizeit vor dem Computer. Die jüngere Tochter liebt es, Fußball zu spielen. Sie planen endlich wieder einen Urlaub zu machen, gerne soll es nach Ägypten gehen. Die Handlung wird hierbei nicht chronologisch erzählt. Ab und zu blickt Charlotte in Gesprächen auf die damaligen Ereignisse zurück. Die Handlung kreist um zwei schreckliche Anschläge, die die Welt im Großen und Kleinen für zahlreiche Menschen verändert hat.

In Kairo lebt Fatima, die ebenfalls verheiratet ist und Kinder hat. Ihre Geschichte wird nicht ganz so umfangreich erzählt wie die von Charlotte, ist aber nicht minder bewegend. Charlottes Weg ist auch ausschweifender und greift auf viele äußere Entwicklungen ein. Ferner taucht eine Krankenschwester als Charakter auf, die eine Komapatientin betreut. Da die Patientin bisher von niemandem erkannt wurde, wird sie lediglich Ms. Right genannt.

Alle Schilderungen laufen auf schreckliche Handlungen in London sowie in Kairo hinaus. Was ist tatsächlich geschehen? Wie geht es Charlotte, die anscheinend ihre ganze Familie verloren hat. Was passiert in Kairo und was oder wer vernichtet Fatimas Familie? Und wer ist Ms. Right? Dies sind die Fragen, die sich kontinuierlich aufbauen und einen enormen Spannungsbogen aufbauen. Dabei geht es immer um die Frage, wie entscheidet man sich? Ist man bereit, bis zum Äußersten zu gehen? Entscheidet man sich für den Hass oder kann man lernen zu verzeihen und zu vergeben?

Der Text schwankt zwischen Leben und Tod, Körperlichkeit und Entmenschlichung. Er spielt mit der bleibenden Ohnmacht bei großen Verlusten. Die Perspektiven wechseln und bewerten nicht, dies geschieht im Kopf des Lesenden. Wenn dies überhaupt möglich ist. Dann taucht eine weitere Stimme im Kanon auf, die Einfluss nehmen möchte. Wie eine Figur aus dem Brechtschen-Theater, spricht sie uns direkt an und verkündet Diabolisches. Es wirkt als würde der Beelzebub oder der innere Teufel zu uns sprechen wollen.

Ein ergreifender Roman, der auch zulässt, dass ein Charakter im Roman neugierig auf das vorherige Werk des Autors ist und dies auch jetzt beim Leser erweckt. Ein Buch, das zu fesseln versteht und durch die Emotion und die klug aufgebaute Handlung viel zum Nachdenken und Nachwirken hinterlässt.  

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