Hendrik Otremba: „Benito“

Dieser Roman ist eine brückenschlagende Reise. Ein Werk, das Kunst mit Wut verbindet, Wahn und Wirklichkeit gegenüber stellt und viele Grenzen auslotet. Auch literarisch ist das Buch ein Ereignis und verdeutlicht das Gegenwärtige durch die Betrachtung der Vergangenheit und durch einen leichten Blick in die Zukunft. Sprachlich und inhaltlich ist der Roman eindringlich erzählt. Im Mittelpunkt steht eine jugendliche Freundschaft, die sich wandelt und Jahre später das Naive verliert. Ein blinder Aktionismus, der durch Radikalisierung im Terror mündet und dann die Schuldfrage stellt. Die beschriebene Reise wird von Pfadfindern auf einem Fluss erlebt. Das Gewässer erlangt wie die Handlung etwas Reißendes und die Menschen, die sich täglich einer guten Tat stellen wollten, verlieren die Bodenhaftung.

Die Handlung wird nicht chronologisch erzählt und erhält dadurch enorme Vielschichtigkeit. Durch den Terroranschlag, der bereits früh erzählt wird, bekommt der Text einen enormen Spannungsbogen. Ein Werk, das einen wie die Helden mitreißt, straucheln lässt und am Ende steigt man zittrig mit aus dem dunklen Fluss und steht erstaunt und begeistert auf vermeintlich festem Boden.

Der Hauptcharakter hat in seiner Sabbatzeit eine ungewöhnliche Einladung erhalten. Er war in Italien in einer Auszeit und kehrt bärtig und mit langen Haaren nach Deutschland zurück. Hier beginnen seine gedankliche Reise und seine Erinnerung. Er ist ein Schriftsteller, der auch doziert und damals in seiner Pfadfinderzeit den Namen Cherubim trug. Sie hatten damals alle Fahrtennamen. Da waren unter anderem Kippe, Maus, Fliegentöter, Häuptling und Benito. Als Cherubim gerade elf Jahre alt war, machte er mit seiner Pfadfindergruppe eine dreiwöchige Kanufahrt. Sein Vater, der Schwimmlehrer, der ihm nie das Schwimmen beigebracht hatte, hat seine Mutter verlassen und je weiter die Reise geht, desto verbundener fühlt sich Cherubim mit der Natur, dem Fluss und den anderen. Er vergisst auf großer Fahrt seine Familienprobleme. Benito sitzt mit ihm in einem Boot. Benito, der blinde Junge, der sein Bein stets nachzieht.

Jahre später reist Cherubim nach Bonn zu einem Kongress in dem großen Hotelkomplex Paradies. Namentlich reist somit ein übernatürliches Wesen in ein paradiesisches Gebäude. Doch der Schein trügt, denn am Tag des Empfangs kommt es dort zu einem Terroranschlag. Viele Menschen aus dem öffentlichen Leben sind angereist und während der laufenden Feierlichkeit und der Show, stürmt ein Mann mit einem Maschinengewehr den Saal und verriegelt die Türen. Er schießt lange wild um sich. Doch gibt es ein Blutbad? Ist der Anschlag nur eine Vortäuschung und hat der Täter, der sich selbst anzündet und sich dann töten lässt, nicht Ähnlichkeiten mit Benito?

Verstört wankt Cherubim aus dem Szenario und stellt sich seinen inneren Fragen. Erneut begibt er sich gedanklich zurück auf die Flussfahrt, die ebenfalls aus dem Ruder lief. Das Abenteuer, das die Grenzen zwischen Kindheit und Erwachsenen verdeutlichen sollte, fließt in eine verstörende und surreale Welt. Der blinde Benito verändert seine Perspektiven. Der introvertierte Junge wird zornig. Ein Pfadfinder verirrt sich oder hat sich die Gesellschaft verlaufen?

Ein kunstvoller und kluger Roman, der viel zu sagen und zu erzählen hat. Eine Reise in und durch die Dunkelheit mit Blick auf das Individuelle und die Allgemeinheit. Gerne gibt man sich solcher literarischen Strömung hin. Ein großartiger und lesenswerter Roman, der viele Leser verdient und eigentlich auch einige Preise erhalten sollte. Ein Lesefest!

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