Ich gebe zu, ich bin bei Tilman Rammstedt voreingenommen. Ich mag alle seine Bücher und da ich mal durch eines seiner Werke an seine Telefonnummer gekommen bin, habe ich die Ehre und kommuniziere ab und zu mit ihm per SMS. Am 05. März 2015 hatte ich mal dreist nach etwas Neuem in Schriftform gefragt und ich bekam folgende Antwort:
Schön, dass anscheinend ein Notfall eingetroffen war… Der Verlag und Tilman Rammstedt wollten auch mal etwas Neues ausprobieren. Drei Monate lang hat der Autor täglich ein Kapitel unter lesebegierigen und wohl auch kritischen Augen geschrieben. Es gab Abonnenten, die sich online anmelden konnten und somit dem Autor mehr oder weniger über die Schulter schauen und Einfluss auf den Text nehmen konnten. Tilman Rammstedt wusste am Anfang selbst nicht, was ihn erwartet und worauf das alles hinauslaufen würde. Nur eins wussten alle: er solle gefälligst wieder schreiben und am Ende soll ein neues Buch von ihm dabei herauskommen. Nach einer kurzen Verschnaufpause ging das Buch durch das Lektorat, wurde schick und ausgangsfähig gemacht. Die gedruckte Ausgabe trotzt jeder Datei. Ein buntes und sehr schönes Buch, das besonders durch das „Schaltkapitel“ auffällt. Das Schaltkapitel ist das Schlussplädoyer („Das wir noch nicht erahnen können“) des Erzählers, das auf gelbem Papier als ein Leporello am Ende des Buches eingebunden wurde. Der „Spiegel“ hat in der aktuellen Literaturbeilage ebenfalls Worte über den Roman verloren. Doch wird in diesem Artikel das gedruckte Buch der Onlineversion gegenübergestellt und letztere als witzig und gut besprochen. Das vorliegende Buch, soll laut dem „Spiegel“, als gedrucktes Werk versagen. Hier rufe ich laut Veto und möchte fragen, ob der Verfasser der Zeilen gerade das digitale als hip und chic empfindet und dies mal wieder verdeutlichen möchte. Oder hat er beide Versionen etwas zu flüchtig überflogen, d.h. gelesen? Ich kenne nur die gedruckte Version, habe somit keinen Vergleich, aber es ist ein schönes Buch, das inhaltlich einen echten Tilman Rammstedt verspricht und hält.
Der Titel „Morgen mehr“ ist sowohl auf die Abonnenten, die fast täglich versorgt wurden, aber auch auf die jeweiligen Hoffnungen der skurrilen Protagonisten bezogen. Die Hoffnung und der Zwang, alles zum richtigen Zeitpunkt zu richten, d.h. einleiten zu wollen, ist das Ende und der Ausgang der Geschichte, in der die Zeit, sei es nur eine einzige Sekunde, ebenfalls eine wichtige Rolle einnimmt. Der Ich-Erzähler stellt sich als ein lebensüberblickender, olympischer Erzähler vor, der bereits alles weiß. Sein Leben liegt vor ihm – doch hat er ein kleines Problem, er ist noch nicht geboren. Alles zu wissen hilft dann auch nichts, wenn man noch nicht gezeugt wurde. So springt nun der Erzähler zwischen seinen zukünftigen Eltern hin und her, denn er hat nur wenig Zeit, um diese miteinander bekannt zu machen. Die Mutter ist gerade dabei, sich einem Franzosen hinzugeben und sein Vater steht mit einzementierten Füssen am Main und wird von einem Möchtegern Großganoven in den Fluß geworfen. Da die neuen Schuhe nicht gut angetrocknet waren, kann sein Vater sich befreien und erreicht das Ufer, und erschrickt drei Mafia-artige Männer, die ebenfalls jemanden im Main verschwinden lassen wollten. Der Trainingsanzugs-Ganove, Dimitri, der den Vater versenken wollte, klaut kurzerhand den Mercedes der Mafia-Jungs und nimmt den Vater mit. Dimitri, der sich diesen Namen selbst ausgesucht hat, meint, dem Vater das Leben gerettet zu haben und beide stehen nun in einer tieferen Verbindung. Hinzugesellt sich etwas später ein Junge, der anscheinend keine Geldnöte hat. Im geklauten Wagen ist ferner ein Koffer mit einem dubiosen (Platzhalter) von den drei Mafia-artigen Männern, die nun die Verfolgung im Auftrag ihres Bosses aufnehmen.
Der Vater möchte aber nichts sehnlicher, als seine Ex-Freundin zurückzuerobern, die aber bereits auf den Weg nach Frankreich auf Hochzeitsreise ist. Es machen sich nun alle auf den Weg nach Frankreich und es kommt auf dem Eifelturm zum Zusammenprall der Handlungen und Personen, nebst einem Schaf. Der Eifelturm, als Schauplatz des Finales, der aus der Sicht des Jungen fast nur aus Löchern zu bestehen scheint – aber so ist wohl das ganze Leben, eine löchrige Materie in Raum und Zeit.
Die Perspektive ist stets aus der Sicht des noch nicht geborenen Erzählers. Die Individuellen Gefühlslagen kommen im Dialog mit den jeweiligen Protagonisten ebenfalls zu Wort. Eine spaßige Road-Novel mit etwas „Zurück in die Zukunft“-Charme. Das Finale in Paris ist gleich dem Umschlag herrlich bunt, schräg und erklärt, was es mit der Erzählstimme wirklich auf sich hat.
Ein literarisches Online-Experiment ist in gedruckter Form ein schöner, kluger, abgefahrener Roman, der mich, wie alle Werke vom Tilman Rammstedt, unterhalten und sehr viel Spaß gemacht hat. Niemals übernimmt der Klamauk den Stil. Mit Phantasie und Erzähltalent ist der Autor wahrlich gesegnet. Lediglich ein unwesentlicher Charakter kommt für mich zu kurz: der arme Zollbeamte. Gerne möchte ich wissen, wie es ihm geht und sende herzliche Grüße und gute Besserung an diesen…
Ein wundersames und wunderbares Buch! Danke Tilman! Zum Buch / Shop
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