Dieser Leseschatz ist schrecklich gut. Ein knapper Roman über die Gewalt von uns Menschen gegenüber den Tieren und uns selbst. Die industrielle Jagd nach Tierprodukten setzt Abgestumpftheit und Arroganz gegenüber der Tierwelt voraus. Menschen, die sich, um es erneut mit Goethes Mephisto zu sagen, tierischer als jedes Tier benehmen. Die Handlung spielt auf einem Robbenfangschiff, das um Grönland auf die Jagd geht. Mit am Bord ist eine Tierärztin zur Kontrolle der Einhaltung der Fangvorschriften. Das Eis und das Schiff werden für sie ein Gefängnis aus Missgunst, Gier und Gewalt.
Die Protagonistin, Mari, schreibt einen Bericht über ihre Fahrt mit dem Robbenfangschiff. Denn sie hat Klage eingereicht und soll und möchte nun alles dokumentieren. Doch hat sie Probleme mit der Chronologie des Geschehenen und springt etwas in ihren Gedanken. Sie steht unter Schock und leidet unter einem traumatischen Stresssymptom.
In Tromsø, ganz im Norden von Norwegen, besteigt Mari das Schiff. Sie ist von der Fischereiaufsicht als Kontrolleurin auf dem Robbenfangschiff eingesetzt worden. Die kleine Mannschaft zeigt sich von ihrer Anwesenheit wenig begeistert. Der Kapitän ist vorerst wortkarg und empfängt sie distanziert. Ihre Koje ist klein und das Leben auf dem Schiff scheint nur mit dem Nötigsten ausgestattet zu sein. Es sind zwei Dinge, die der Mannschaft nicht zu gefallen scheinen: die Kontrolle sowie die Anwesenheit einer jungen Frau, die die Männer zu beobachten hat. Die Beklemmung wächst und beginnt beim Duschen. Ihre Kleidung, die sie sich hingelegt hatte, wurde weggeräumt. So hat sie oft das Gefühl, jemanden oder allen auf dem Schiff ausgeliefert zu sein. Ab und zu sind es Stimmen vor ihrer Tür oder Zigarettenrauch, der direkt in ihrer Koje zu sein scheint. Hat sich jemand nachts Zugang verschaffen können?
Die Enge und die Beklemmung werden immer schlimmer. Als sie die Eiswüste von Grönland erreichen beginnt die Jagd und die Männer, besonders die Schützen leben ihre niederen Instinkte und Blutgier aus. Mari wird Zeuge von brutalen und herzlosen Morden an Jung- und Alttieren. Sie meldet dies dem Kapitän, der aber hinter seinen Männern steht und auch der Reederei Erfolg zu melden hat. Er duldet die skrupellosen Tötungsmethoden und sagt auch seinen Männern Bescheid, dass Mari diese Missstände melden will. Die Ablehnung der Mannschaft schlägt um in Psychoterror. Auch auf der Jagd werden die Methoden der Männer immer brutaler, um Mari oder sich selbst etwas zu beweisen. Durch einen unerklärlichen Unfall ist der Sendemast defekt und es besteht keine Telefon- oder Internetverbindung. Als die dänische Schiffskontrolle an Bord kommt, kann Mari die Brücke alleine aufsuchen und funkt auf öffentlichen Kanälen und meint, durch die Anwesenheit der Dänen in Sicherheit zu sein. Doch ihre Hoffnung stirbt sehr schnell und sie sieht nur noch einen Ausweg…
Der Roman ist in kurze Abschnitte gefasst, die aus Maris Perspektive geschrieben sind. Langsam breiten sich die Enge und das Grauen aus und man wird als Leser mitgenommen in diesen Psychoterror an Bord und auf dem Eis. Einzelne Elemente der Jagdbeschreibungen stammen aus existierenden Berichten von Inspektoren. Dennoch bleibt der Roman und die Menschen und was sie sich gegenseitig antun ein Konstrukt der Phantasie des Autors. Ein grausames, aber gutes und sehr spannendes Buch. Es sollte übertragen werden auf alle Massentötungen der Fleischindustrie und somit Pflichtlektüre aller Karnivoren werden.
Das Buch hat mich erschüttert und auch in meiner Ansicht bestärken können. Es regt an, sich über unser Verhalten gegenüber anderen Lebewesen und Menschen Gedanken zu machen. Eine alptraumhafte Reise zu den Machtspielen der Menschen und über die Verletzbarkeit des Lebens und der Natur.
Siehe auch die Besprechungen auf: Zeichen & Zeiten und Bücherwurmloch
Dieses Buch ist mir in der Verlagsvorschau sofort aufgefallen und auf die Leseliste gewandert. Wie ich sehe, bist Du beim „Hase-und-Igel-Rennen“ wieder der Erste 😉 Sehr schön, dass Du auf diesen Titel aufmerksam machst. Viele Grüße
Als Buchhändler ist das seine Pflicht 😉
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