Natsume Soseki: „Kokoro“

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Dieser Leseschatz ist Weltliteratur und der Verfasser, Natsume Soseki (1867 – 1916), gilt als prägender Autor Japans. Der Roman ist ein Meisterwerk und das Buch und sein Schriftsteller sind Vorbild moderner und aktueller japanischer Literatur und stellte die Weichen u.a. für Haruki Murakami.

Der Roman spielt während der Transformationsprozesse der Meiji-Zeit, die geprägt war vom Umbau der Agrargesellschaft zur modernen Industriegesellschaft. Zwei Jahre vor seinem Tod schrieb Natsume Soseki „Kokoro“, ein Werk, das aus drei Teilen besteht. Das erste Kapitel „Der Sensei und ich“, sowie der zweite Teil „Meine Eltern und ich“ erzählen aus der Perspektive eines Studenten, der sich mit einem älteren gebildeten Mann anfreundet, den er lediglich Sensei nennt. In wörtlicher Übersetzung bedeutet Sensei Meister, Lehrer oder Lehrmeister, wird aber auch als sehr höfliche Anrede gegenüber Älteren oder Gebildeten verwendet. Der dritte Abschnitt „Der Sensei und sein Vermächtnis“ ist ein Brief von dem Sensei an den Studenten. Der Titel des Romans „Kokoro“ heißt auf Deutsch so viel wie Herz, Geist oder Essenz.

Der Erzähler, ein junger Student, beobachtet während der Sommerferien am Strand einen älteren, gebildeten Mann. Er fühlt sich zu diesem hingezogen und sucht dessen Bekanntschaft. Sie lernen sich kennen und schätzen. Der schweigsame und rätselhafte Sensei ist dem blutjungen und naiven Studenten ebenfalls zugetan. Nach den Ferien besucht der Student diesen regelmäßig in Tokyo. Trotz der Gastfreundschaft und seines Wohlwollens bleibt der alte, gebildete Mann auf Distanz. Die jüngere Frau des Sensei ist eine schweigsame und zurückgezogene Schönheit. Die Freundschaft ist geprägt durch Demut, Ehrfurcht und Respekt. Über Persönliches, die eigene Vergangenheit oder das Gefühlsleben wird nicht gesprochen. Der Sensei lebt gegenüber den Menschen in ständigem Misstrauen. Auf einem Spaziergang zu einem Grab wird deutlich, dass der Sensei unter einem tragischen Schuldgefühl leidet. Da er auch seiner Frau mit Distanz und Misstrauen begegnet, scheint diese etwas mit seinem fast schon misanthropen Verhalten zu tun zu haben. Seine Verachtung ist aber ein stiller und auf sich selbst gerichteter Kummer. Der Student wächst innerlich während des Studiums und durch die Begegnung mit seinem neuen Lehrmeister und wird langsam erwachsen. Der Sensei lebt in den Tag hinein, übt keinen Beruf mehr aus und scheint vermögend zu sein. Der Student strebt ebenfalls so ein leichtes Leben an und hat dadurch bisher keine festgesetzten Ziele.

Der Student ist auf dem Land großgeworden und besucht seine Eltern nur selten. Da sein Vater schwer erkrankt, reist er nach seinem erhaltenen Examen zurück, um bei seinem sterbenden Vater zu sein. Hier werden nun die unterschiedlichen Werte der Generationen und ein Land im Wandel immer deutlicher. Ebenfalls die Verfremdung und die Vereinsamung des Erzählers. Denn der Student fühlt sich im Elternhaus nicht heimisch und vergleicht stets den Vater mit dem Sensei, der im zweiten Teil des Buches nicht anwesend, aber stets gegenwärtig ist. Die Eltern erhoffen sich für ihren Sohn endlich eine Anstellung und flehen ihn an, den Sensei schriftlich darum zu bitten, ihm bei der Suche nach einer Arbeit behilflich zu sein. Bis das Antwortschreiben eintrifft vergeht eine längere Zeit und es geht auch nicht um die Zukunft des ehemaligen Studenten, sondern um die Vergangenheit des Sensei. Dieser sieht in seinem jungen Freund endlich jemanden, dem er sich anvertrauen kann und erzählt diesem, was er nicht einmal seiner Frau berichten mochte.

In seinem langen Brief kündigt er seinen Freitod an und der Erzähler verlässt seinen sterbenden Vater, um bei dem Sensei zu sein. So kehrt der Erzähler der ländlichen Tradition den Rücken und schließt mit dieser ab, denn eine Rückkehr scheint durch seine Tat fraglich. Der Abschiedsbrief beinhaltet den Rückblick des Sensei auf sein Leben und die tragischen Einschnitte, die ihn geprägt hatten. Sein Onkel hatte ihn um sein Vermögen gebracht, d.h. dieses veruntreut. Ein religiöser, asketischer Mitstudent, den er im Brief einfach K. nennt, wohnte auf seine Einladung hin mit in der Privatpension und verliebte sich, genauso wie er selbst auch, in die Tochter der Gastwirtin. Der materielle Egoismus des Onkels und die eigene Selbstsucht der Liebe verhärten sich im Sensei als Verletzung, Schuldgefühl und Treuebruch. Seine innere Vereinsamung veranlasst ihn im Geist der Meiji-Zeit zu seiner letzten Tat.

Ein stiller, sich langsam entfaltender Roman über Vereinsamung und Freundschaft. Über die Einkehr der Moderne in eine alte, traditionsverpflichtende Welt. Die einzelnen Teile im Roman vertiefen jeweils die Sicht auf die klassische und die moderne japanische Kultur. Die Not des Sensei steht stets im Vordergrund und wirkt wie der Hauptkern des Romans, doch ist es auch die wachsende Vereinsamung des jungen Erzählers.

Einer der meistgelesenen Romane in Japan verbindet das Schicksal Einzelner mit den Umbrüchen einer Kultur. Man nimmt sich beim Lesen selbst die nötige Zeit, um den Text aufmerksam zu studieren, und versinkt dabei in eine fremde, ferne Zeit. Man kann, wenn man es möchte, für sich viel Wissen aus dem Roman und den Anhängen herauslesen.

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4 Kommentare

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4 Antworten zu “Natsume Soseki: „Kokoro“

  1. Da sieht man wieder, wie wenig man doch die Literatur außerhalb Europas kennt … und welche Bildungslücken sich da auftun – jedenfalls bei mir. Mir sagte der Autor gar nichts. Toll, dass Manesse immer wieder solche literarischen Weltschätze verlegt (und dass Du ihn hier vorstellst). Danke!

  2. Ein wirklich sehr guter Roman, ich habe ihn im letzten Jahr gelesen und war auch sehr davon angetan.

  3. Pingback: Blogbummel Oktober 2016 – Teil 2 – buchpost

  4. wortsonate

    Ist auf meiner Leseliste notiert

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