Gérard Scappini: „Ungeteerte Straßen“

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Das Bild der ungeteerten Straßen vermittelt den unebenen Weg, den auch das Leben gehen kann. Sei es der naturbelassene Untergrund oder der Anfang des Lebenswegs, der ebenfalls ein holpriger sein kann. Das Buch „Ungeteerte Straßen“ von Gérard Scappini trägt den Untertitel „Eine Kindheit in Frankreich“. Wenn man aber einen gewöhnlichen Roman erwartet, wird man spätestens beim Aufschlagen der Seiten eines besseren belehrt. Der Text ist in 57 Gedichten geschrieben, die die Kindheitserinnerungen eines Jungen beschreiben. Es ist eine Lyrik, die sich dem Leser sehr schnell erschließt. „Es gibt Lyrik, die sich nicht der Welt und dem Leser verschließt!“ sagte mir in einem Gespräch Günther Butkus, der Verleger des Werkes. Es sind sehr bodenständige Gedichte, die sich fast wie Prosa lesen lassen. Denn man könnte es wie einen Text lesen, der typografisch gebrochen wurde. Dann verliert man aber den Bezug zum lyrischen und poetischen Rhythmus des Werkes.

Wir Leser tauchen ein und versinken zügig in den ungeteerten Straßen. Der Leser erlebt die Welt der 50er Jahre in Frankreich aus der Sicht von Pascal. Sein Umfeld und alle handelnden Figuren treten sehr plastisch ausgearbeitet Stück für Stück aus den einzelnen Gedichten hervor. Im Vordergrund steht die kindliche Einfachheit und Naivität von Pascal. Neben den Freuden seiner Kindheit lernt er die Konflikte der Eltern und die wachsende Armut zu bewältigen. Als sogar das Brennholz ausgeht wird sein Spielzeug verbrannt mit der Hoffnung auf Neues. Dies bleibt ihm aber trotz großer Anstrengungen meist verwehrt. Ihm wurde bei besonderem schulischen Erfolg ein Fahrrad versprochen und als er das Ziel erreicht hat, bekommt er lediglich vom Vater den Hinweis, er solle nur so weiter machen. Der Vater ist ein erfolgloser Arbeiter, war mal ein gefragter Sportler und neigt zur Willkür und zur Brutalität. Die Mutter träumt von besseren Tagen und umsorgt die Kinder liebevoll. Durch die Gedichtform erhascht man beim Lesen Einblicke in die damalige Zeit und in Stakkato-Sätzen und Bildern durchleben wir Pascals unebenen Weg von der Kindheit bis zum jungen Erwachsenen. Pascal durchlebt das Schöne, aber auch die Schrecken der Armut und die Konflikte der Familie. Ein kindliches, urteilsfreies Staunen untermalt die Trostlosigkeit jener Zeit und die Bitterkeit sowie Trauer von Pascals Familie, in deren Umfeld er langsam heranwächst.

Das Buch vereint einen Roman und einen Lyrikband in einem. Gérard Scappini schlägt mit den 57 Gedichten ein ganzes Rad um die Figuren und ihre Geschichte. Mit wenigen Worten hat er eine Welt erschaffen, die er mit tiefgründigen Charakteren belebt. Das Buch reiht sich ein in die Werke der mäandernden biographischen Romane. Doch ist es durch die knappe Sprache und die Gedichtform eine kurzweilige Reise in die Lyrik und gerade dadurch eine positive Entdeckung mit bleibenden Eindrücken.

Gérard Scappini wurde in Frankreich geboren, lebt aber in Deutschland und war als Buchhändler und Verlagsvertreter tätig.

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