Tomas Blum: „Wofür wir uns schämen“

Eine Geschichte über das innere Wachsen. In der Anonymität einer Gruppe kann der denkende und fühlende Mensch sich nicht lange verbergen. Das Wahre, das was tief im Inneren verborgen ist, wird meist vor der Gemeinschaft versteckt. Das Gefühlsleben wird in der erfolgsorientierten Gesellschaft meist als unangenehm wahrgenommen. Die Scham als innerer Schutzraum kann notwendig sein, aber auch ein Hindernis für das eigentliche Wachsen bedeuten, wenn sie einen zu sehr hemmt, sich dem Gegenüber zu öffnen. Die Charaktere bleiben vorerst namenlos und der Ich-Erzähler spricht ab und zu jemanden direkt an. Somit vermengen sich Wahrnehmung, Wahrheit und Erinnerung. Das Verborgene, das Schamhafte wird langsam herausgearbeitet. Ferner geht es um die selbstgewählten oder auferlegten Rollenbilder, die uns prägen und seit der Kindheit unbewusst oder bewusst antrainiert wurden.

Der Erzähler, Gregor, ist Teamleiter in einer Agentur. Die Kunden sind angesehene Auftraggeber aber dennoch kränkelt das Kreativunternehmen und steht kurz vor der Insolvenz. Gregor will mit seinem Team den hoffentlich rettenden Auftrag umsetzen. Die Geschäftsleitung suggeriert ihm einen erhofften Karrieresprung. Das Team bleibt im Text eine undefinierbare Gruppe, aus der sich der Erzähler abhebt. Er wirkt wie ein Mensch, der in der Rolle des Teamleiters aufgeht. Einige Kollegen fürchten seinen scharfen Verstand und seine kreative Kritik. Doch innerlich ist er zerrissen und hadert mit sich. Das Berufsleben ist es nicht, was ihn erfüllt. Doch auch sein Privatleben ist in Schieflage geraten. Seine Ehe ist gescheitert und in der Vergangenheit muss er unter depressiven Schüben gelitten haben und von einer Abhängigkeit gelähmt gewesen sein.

Sein Innenleben beginnt, sich immer mehr ins Außen zu kehren, als ihm eine Kollegin auffällt. Diese bleibt auch bis zum Ende namenlos. Doch erkennt er in ihr das rothaarige Mädchen aus seiner Vergangenheit. Es gab eine Geschichte, die er auf Geheiß seines Vaters lange verschwiegen hatte. Sein Vater war Mediziner und wurde eines Tages zu jenem rothaarigen Mädchen gerufen. Gregors Elternhaus war nicht der wärmende kindliche Ort und das Umfeld war stets auf das äußere Erscheinungsbild geprägt. Die Erinnerungen an den Tag in der Kindheit wachsen und nehmen immer mehr Raum ein. Ist die Kollegin das Mädchen von früher? Haben sie eine gemeinsame Vergangenheit?

Es entsteht eine Beziehung, denn beide scheinen sich immer mehr zu mögen. Er soll sie laut der Chefetage in sein Team integrieren. Sie kommt ihm zuvor und fragt, ob er Lust hat, mit ihr in einen Club zu gehen, in dem man nur als Paar hereingelassen wird. Hier ist die Polarisierung der Geschichte verdeutlicht. Das anonyme Arbeitsumfeld und das nackte, schamhafte Privatleben. Das körperliche und das seelische Nacktsein kristallisieren sich zwischen den Beiden heraus. Es entsteht eine Liebesgeschichte mit einer Vergangenheit in der erfolgsorientierten Gesellschaft. Als er sie direkt auf die alten, dramatischen Geschehnisse anspricht, explodiert die Handlung regelrecht.

Ein erlebtes Gefühlsleben und ein fürchterliches Drama in der Kindheit machen aus zwei namenlosen Typen Menschen, die die Liebe suchen und innerlich wachsen und sich gegenseitig erkennen.

Das Buch weckt von der ersten Seite ein großes Interesse an den Figuren, der Liebesgeschichte und dem Drama im Verborgenen. Eine Aufforderung, das Lebendige zu fühlen und zuzulassen. Die Rollen, die wir uns geben, sind meist nur Schutzräume, die nicht immer von Nutzen sein müssen. Ein sprachlich und inhaltlich überzeugender Debütroman.

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Ein Kommentar

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Eine Antwort zu “Tomas Blum: „Wofür wir uns schämen“

  1. Danke. Ich werde/will es lesen!

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