
Diese Lyrik ist bodenständig und entzieht sich nicht dem Leser. Es sind Gedichte, die wie jede Lyrik, etwas ganz Persönliches sind. Durch die Thematik und die nahbare Sprache fühlt man sich mit den Texten schnell verbunden. Das Buch „Schnee über den Buchstaben“ beinhaltet zwei Gedichtbände, die um die persönliche Erfahrung und das Zusammenleben einer Familie kreisen. Die älteren Werke haben etwas Verletzliches, sogar von einer Angst durchtränktes. Angst vor dem Verlust eines geliebten Menschen. Alles wirkt zerbrechlich und von einer Vergänglichkeit berührt. Die poetische Sicht verändert sich in Folge. Nach dem Teil „Die Hirnoperation“ folgt das „Familienleben auf der Erde“ und der intime Blick in das familiäre Innenleben wächst in die Betrachtungen des Umfeldes.
Der Titel „Schnee über den Buchstaben“ ist als Zeile dem Gedicht „Die Stadt“ entnommen. Der Tumor als namenloses Grauen verschwindet und die Lebensfunktionen erwachen. Das Bild vom Schnee, der auch etwas Vergängliches hat, verdeckt hier die Buchstaben und somit die Sprache. Schnee, der in seinem Zustand aber niemals bleibt, sondern sich auflöst und das Darunterliegende frei gibt. Reiner Schnee, der durch das Umfeld schmutzig wird und die Färbungen des Umfeldes annimmt. Dieses Bild passt zu den vorliegenden Texten, die sich stückweise im Leser entfalten und chronologisch gelesen ein gesamtes Werk mit einem komplexen Bogen darstellen.
Die Gedichte lesen sich schön und verstehen es, durch ihren eigenen Klang den Leser an sich zu fesseln. Die Werke offenbaren den Wunsch nach Schutz und familiärer Wärme. Der Verlust des Halts und das Erkennen, dass alles vergänglich ist, bringen diese Lyrik in eine Anfangsstimmung, die sich daraus löst und eine poetische Weltsicht offenbart. Dabei bleibt alles naturverbunden und dem Alltag niemals entrückt. Auch wenn die Texte etwas Verzauberndes haben, sind sie nüchtern und dem gegenwärtigen Erleben entsprungen. Das Nüchterne und Bodenständige machen den großen Reiz dieser Werke aus.
Diese lyrischen Entdeckungen kann man zweisprachig erleben. Die isländischen Originaltexte stehen der gelungenen Übertragung von Jón Thor Gíslason und Wolfgang Schiffer gegenüber.
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