
Ein bildreicher Roman über Flucht, Vertreibung und den Versuch anzukommen. Ein Familienepos, das durch den Schilderungsreichtum zu begeistern versteht. Mit ganz genauer Beobachtungsgabe und einem Gespür für Zeiten und Figuren entwirft Ulrike Dotzer einen umfangreichen, aber niemals überfüllten Roman. Die Autorin, die als Journalistin tätig ist, hat Geschichte und Philosophie studiert und ist für das Programm von ARTE, dem europäischen Kultursender, verantwortlich. Somit versteht es die Autorin, journalistischen Spürsinn und kulturelle und gesellschaftliche Entwicklungen in Literatur zu verwandeln. Im Mittelpunkt stehen im Roman der Neuanfang und die dafür benötigten Kräfte.
Eine Familiengeschichte, in der die Hauptcharaktere das Schöne kreieren und für sich bewahren möchten. Drei Generationen, die von Auswanderung, Rückkehr und Neubeginn geprägt werden. Der goldene Boden, das Vermögen, das jenes Fundament für den Aufbau darstellt, ist der Fleiß und das Glück von Gustav Hirsch.
Der Roman spannt einen großen Bogen von 1896 in New York bis 1956 in Kiel. Die Abschnitte im Roman beginnen jeweils 1956 um das Osterfest. Die ganze Familie kommt in Kiel zusammen, um sich zu sehen. Dabei stehen im Mittelpunkt der alte Gustav Hirsch und Clara, Gustavs Tochter. Gustav ist damals mit neunzehn Jahren nach Amerika aufgebrochen, um den Rekrutierungsbehörden des Kaisers zu entkommen. Er ist voller Hoffnung in Amerika, besonders in New York, Arbeit zu finden. Sein Freund ergattert sich einen Tagesjob am Hafen, der sich in Folge als keine so gute Wahl herausstellt. Gustav hat nach ersten Startproblemen dann doch Glück und findet eine Anstellung bei einem Herrenausstatter. Er macht dort Botengänge und Lagerarbeiten. Bei seiner Zimmersuche wird er bei einer Familie fündig, die einen Barbier-Salon betreibt. Ab sofort hat Gustav somit zwei Arbeitsstellen und lernt fortan das Friseurhandwerk. Dies ist der Grundstein für den folgenden Handlungsverlauf. Später, als Gustav Amerika wieder verlassen muss, zieht er nach Stolp in Pommern. Ein halbes Jahrhundert später flieht von dort seine Tochter Clara mit ihren vier Kindern nach Westen. Mit harter Arbeit baut sich die Familie stets neue Existenzen auf. Zunächst in Bad Bibra, dann später in Kiel. Für sie hat das Handwerk einen goldenen Boden und ihre Einstellung, niemals aufzugeben oder sich unterkriegen zu lassen, verfestigt sich immer mehr. Doch gibt es auch einen dunklen Schatten, den ein Schweigen ummantelt. Die SS-Vergangenheit von Claras Mann.
In diesem Roman leben drei Generationen vom Beruf des Friseurs und sie haben den Wunsch, die Menschen schöner zu machen. Dabei durchwandert die Familie Weltgeschichte. Das Historische wird durch die Schilderungen sehr lebendig. Das Kaiserreich, die Auswanderung, der Nationalsozialismus, der Krieg und die Nachkriegszeit. Dabei bleibt es immer der amerikanische Traum, der die Familie bewegt, sich immer wieder emporzuarbeiten. Mit einer Fülle an Details und Wissen wird dieser Roman zu einem Erlebnis und die Dichte der Handlungen und der Charakterisierungen lassen alles und jeden sehr plastisch erscheinen. Ein historischer Roman, der uns in die Spiegel von Friseuren blicken lässt und uns selbst erkennen lehrt.
Dieser Roman ist ein wort- und handlungsstarkes Debüt von Ulrike Dotzer.
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