
Der Roman ist ein exzellentes Spiel aus psychologischem Familienroman und Weltgeschichte. In der Handlung schleicht sich in der geschilderten Beziehung eine Trennung hinein. Diese innere und im wahrsten Sinne gezogene Mauer ist auch der politische und geschichtliche Blick der Trennung von Ost und West und der langsamen Aufarbeitung. Etwas, das familiär zusammenlebt und sich gefunden hat, verliert sich und eine radikale Aufteilung führt in die Katastrophe. Obwohl dann alles vorbei ist, machen wir Menschen weiter und die ungewollte Aufarbeitung hindert uns am gemeinsamen Leben.
Der Roman erzählt fast immer chronologisch und aus wechselnden Perspektiven der Familienmitglieder. Die Handlung spielt in den Jahren 2000 bis 2020, in denen sich das Finden, Trennen und das katastrophale Experiment dieser Familie ereigneten. Jede Perspektive hat ihren eigenen Klang und Verständnis der Geschehnisse und weckt beim Lesen jeweils eine enorme Empathie für die agierenden Charaktere. Der Roman ist wunderbar geschrieben und baut langsam das Zerwürfnis auf, das in der Spaltung und Tragödie mündet. Bereits als sich das junge Paar findet, ist eine Diskrepanz zu spüren. Das Faszinierende und der Wunsch nach Liebe liegen neben dem Übersehen der Unstimmigkeiten. Ganz feinsinnig tastet sich die Autorin an ihre Figuren und deren ungewöhnliche Geschichte heran und steigert sich in der Spannung und der psychologischen Analyse, in der beständig unsere Zeitgeschichte reflektiert wird.
Charlotte lernt Simon auf eine holprige Weise in Berlin kennen. Durch das Spiel mit einer Wasserflasche und einem kleinen Sturz begegnen sich die beiden, aus denen später ein Paar wird. Charlotte arbeitet in einer Agentur, die sich um Werbetexte und um unternehmerische Internetauftritte kümmert. Simon ist Schauspieler und hofft auf eine Karriere beim Film, die er durch ein Casting für eine Krimiserie starten möchte. Die beiden suchen den Weg zueinander und die gemeinsame Liebe. Ihr Weg ist kein geradliniger und als ihre Eltern, die in Dresden wohnen, sie besuchen möchten, um Simon kennenzulernen, sterben diese bei einem Unfall. Genau am Tag als sich auch das Weltbild wandelt durch die Anschläge in New York. Da das Paar stets nach einer geeigneten gemeinsamen Wohnung gesucht hat, sieht Charlotte eine Gelegenheit als sie das Elternhaus in Dresden erbt. Doch Simon hadert und freut sich nicht, willigt dann aber doch, kurz vor der Geburt ihres ersten Kindes, ein.
Für den Traum des gemeinsamen Lebens machen beide Kompromisse. Beide verzichten auf ihre beruflichen Karrieren und der Traum wandelt sich kontinuierlich in einen Alptraum. Dies erleben besonders ihre Kinder, Greta und Karl. Greta, die ältere Tochter, hat eine engere Bindung zu Simon und Charlotte vergöttert Karl. Die Eltern streiten sich oft und als es immer unerträglicher wird, ziehen sie eine Reißleine. Eine Linie, die sich als Trennungsstrich durch das ganze Haus zieht. Haus und Familie werden aufgeteilt und das Leben in der Disharmonie erschüttert das Zusammenleben.
Sofort ist man verbunden mit den Charakteren und der Mahlström der Handlung reißt einen gänzlich mit. Das ungewöhnliche Familienbild wird dabei niemals überstrapaziert, sondern ist trotz des psychologischen Kampflatzes ein Ort, in dem man literarisch gesehen gerne Platz nimmt. Ein unerbittlicher Bericht über zwei Jahrzehnte, der jeden, der das Buch liest, berühren wird.
Franziska Gerstenberg hat mit viel Hingabe und mit schöner Sprache einen Familien- und Gesellschaftsroman geschrieben, der den Weg in eine Katastrophe aufzeigt und nach dem Kern des Zusammenlebens und der Liebe sucht.
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