
Eine Insel als Rückzugsort. Die Insel ist nicht in den Weiten des Meeres auszumachen, sondern befindet sich in einem See. Somit ist das Bild der Abgrenzung, der Isolierung und der inneren Flucht verstärkt. Ein Kind erlebt die Flucht der Eltern und verwandelt somit das Gesehene, das Karge, die Armut in Reichtum durch Kindesblick. Es ist Hans, dessen Geschichte wir erleben, der als Inselmann ein Mythos wird. Hat er gelebt? Ist er gleich dem Schimmelreiter eine Sage, die mit der Natur und Geschichte eng verbunden ist? Dirk Gieselmann schreibt in seinem Debütroman ganz nah, sanft und empathisch jenem Hans zugewandt. Durch die Zuwendung, Charakterisierung und die Naturelemente als Metapher reiht sich der Roman ein in jene Werke von Dirk Stermann (Der Junge bekommt das Gute zuletzt), Malin C. M. Rønning (Skabelon), Robert Seethaler (Ein ganzes Leben) oder Willi Achten (Die wir liebten). Es ist die Geschichte eines Inselkönigs. Der große und später der verblassende König. Es ist eine sehr bewegende Geschichte, die ganz zart und still erzählt wird. Sie ist traurig und wunderschön zugleich.
Steine, die ins Wasser geworfen werden, bilden Ringe, die auslaufen und dann lautlos am Ufer brechen. Doch wer trauert um Wellen? Nach Beenden des Romans trauert man und freut sich, so etwas Schönes erlebt zu haben. Der Roman ist aus der Zeit gefallen. Denn die Zeit lässt sich nur erahnen. Es gibt Radios, bei denen ein Auge aufleuchtet, wenn es eingeschaltet wird. Kutschen und Autos teilen sich die Straßen. Menschen fliehen und überwinden Länder. Somit ist es eine Zeit, die eventuell Anfang der sechziger Jahre einzuordnen ist. Der Ort könnte in Ostdeutschland liegen. Die Familie von Hans lebt einfach und der Vater ist wortkarg und launisch, wenn er von der Arbeit kommt. Irgendetwas hat sich verändert, etwas ist passiert, das Hans nicht erzählt bekommt. Doch hört er seine Eltern flüstern. Sie müssen weg und die Flucht soll nicht über Grenzen, sondern auf eine Insel im See gehen, der nahe der Stadt liegt. Ein großer See, denn die Insel ist vom Festland nur zu erahnen. Am Tag der Flucht scheitert diese fast durch das verspätete Ankommen des Fährmanns, der bereit ist, die Familie überzusetzen und in Folge wenige Male im Jahr zu versorgen. Auf der Insel lebte vorher ein Schäfer mit seinem Hund und den Schafen. Der Schäfer ging ins Wasser. Was dies bedeutet kann Hans nicht begreifen und freundet sich mit dem Hund an. Die Schafe, die überlebt haben, sind eine Lebensquelle der Familie auf der Insel. Hans erlebt das neue Leben auf seinem „Amerika“ voller Abenteuer, Träume und der Suche nach Schönheit. Doch die Einsamkeit wurzelt in seinem Empfinden, denn er vermisst seine Freunde. Doch freut er sich, denn er ist weg von den unheimlichen und brutalen Nachbarn. Hier auf der Insel ist er ein König, der Zeit hat, die Natur zu studieren.
Die Traumwelt von Hans zerbricht an der Realität. Die innere Flucht wird im Außen registriert und die die Schulbehörde meldet sich. Anfänglich rudert Hans somit jeden Tag aufs Festland, um in der Stadt die Schule aufzusuchen. Doch findet er keinen Einklang mit der äußeren und der inneren Inselwelt. Und er rudert nicht mehr ans Land, sondern versteckt sich und bleibt ganz auf der Insel. Die Behörden reagieren erneut und lassen Hans abholen. Der Inselkönig verliert sein Reich und im Schatten der Welt wird das Farbenfrohe immer blasser. Jahre später will er heimkehren, doch wird er auf der Insel empfangen?
Die Einsamkeit erzeugt Traurigkeit und ist dennoch schön. Das Individuum in der Gesellschaft als Bild des Inselmannes erzeugt in diesem Roman enormen Raum für persönliches Empfinden. Ein Werk, das im Lesenden eine Insel erbaut, die sich festsetzt und nachhaltig seine Bilder an die inneren Kanten wirft. Das Werk lebt von der Zuwendung zu den Figuren und den schönen Beschreibungen und Sätzen. Ein Roman, der ein ganzes Leben in der ganzen Fülle an Melancholie und Schönheit umfängt. Der Individualismus und der Wunsch nach Abgrenzung werden hier märchenhaft beschrieben und sind letztendlich doch keine Märchen. Ein wunderbares Werk, um darin gänzlich zu versinken.
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