
Dieser Roman ist ein Vermächtnis in Hinsicht auf den verstorbenen Autor und auf die erzählte Geschichte. Im Mittelpunkt steht eine Familiengeschichte über zwei Generationen im zwanzigsten Jahrhundert, die in der Scharfrichter-Tradition mündet. Die agierenden Figuren sind zuweilen historischen Persönlichkeiten nachempfunden. Dennoch ist es ein Roman. Ein Werk, das durch seine Ehrlichkeit und die geschilderten Schrecken, einen Spannungsbogen aufbaut und die Charaktere fein herausplastiziert. Hier stehen das Private, das Idyllische dem Kalkül eines Staatsapparates gegenüber. Die Hingabe zum Erfolg und der Wille zur Macht sind dabei die Motivatoren. Zwei politische Strömungen geben den Hintergrund für die Henkers-Geschichte. Die des Nationalsozialismus und später die Entwicklung im geteilten Deutschland, besonders in der DDR, in der die Todesstrafe noch vollzogen wurde. Im Roman wird die individuelle Schuldfrage in einem totalitären Staat beleuchtet und übt dadurch eine makabre Faszination aus.
Peter Körber wird am Anfang von einem Genossen gebeten, noch einmal für den Staat seiner Aufgabe als Scharfrichter nachzukommen. Eigentlich hat er aufgehört, ist gebrochen und will nicht mehr, doch das perfide Machtspiel geht weiter, denn der Staatsapparat hat Informationen für ihn, die sein Leben verändern könnten. Um die richtige Antwort geben zu können, blickt er zurück auf sein Leben und liest die Tagebücher seines Vaters, den er nie kennengelernt hatte.
Peters Geschichte beginnt in Leipzig Ende 1943 nach einem Bombenangriff. Er wird als Dreijähriger von seinem Vater bei seiner Tante abgegeben, bei der er fortan aufwächst. Als die DDR gegründet wird, kann er sich mit den Ideologien des Staatsbildes gut identifizieren, denn der Mann seiner Tante ist sehr prinzipientreu und hat Peter ebenfalls so geprägt und erzogen. Er ist ein guter Schüler und fällt bereits im Studium höheren Instanzen positiv auf. Er studiert an der Deutschen Akademie für Staats- und Rechtswissenschaft und erhält später auch im Ministerium für Staatssicherheit eine Einstellung. In seiner Freizeit liebt er es, mit seinem besten Freund Jazz zu hören und im Ministerium kann er seine Liebe zur Kunst sogar gut einbringen und macht dadurch Karriere. Peter ist parteihörig und bleibt seinen Ideologien stets treu. Seine Macht wächst und er wird wohl auch dadurch im Privatleben kein guter Ehemann. Er hat seine Frau durch die Liebe zur Kunst kennengelernt. In seiner Ehefrau erwacht ein stiller, rumorender Freiheitsdrang, dem sie nachgibt, als Peter ihr etwas Schlimmes antut. Ihre Flucht in den Westen wirkt sich auch auf Peter aus, denn er wird vor die Wahl gestellt, Jahre im Gefängnis zu verbringen oder sich als Scharfrichter zu rehabilitieren. Hierbei wird ihm angedeutet, dass ihm der Henkersberuf im Blute liegen würde. Jetzt stößt er zum ersten Mal auf die Geschichte seines leiblichen Vaters.
Fritz Wernicke, geboren 1910, will mit aller Macht in der Hotel- und Gastronomiebranche Erfolg haben und träumt von einem eigenen Hotel. Er ist auch sehr erfolgreich und will in der Schweiz seine Kenntnisse erweitern. Doch hier wird er Opfer von Betrügern und geläutert beginnt Fritz als Oberkellner erneut in einem Hotel in Leipzig. Durch die gefühlte familiäre Zuwendung zum Besitzer und der Liebe zu dessen Tochter wird Fritz in den Betrieb gänzlich integriert. Doch geht der Hotelbesitzer einer Nebentätigkeit als Henker nach, die seit vielen Jahren in seiner Familie weitervererbt wird. Da Fritz auf die weitere Gunst des Mannes hofft, bewirbt er sich als dessen Scharfrichterhelfer. Der Beruf, der eigentlich ein gesellschaftlich verpönter ist, bekommt durch den beginnenden Nationalsozialismus einen ganz anderen Stellenwert.
Der Roman erzählt von Freiheit und Selbstbestimmung innerhalb zweier totalitärer Staatsbilder. Staatsapparate, die die Agierenden für sich beeinflussen und manipulieren konnten. Die persönliche Verstrickung und die Bereitschaft, für die eigene Macht oder den Machterhalt in der Vernichtungsmaschinerie fast alles zu tun, zeigt das wahre Gesicht dieser Dunkelheit.
Rainer Wittkamp konnte die Veröffentlichung dieses Romans leider nicht erleben. Er starb Ende 2020 überraschend und sein Verleger, Günther Butkus, hat mit Alexander Häusser sehr sensibel diese endgültige Fassung erarbeitet. Ich bin dankbar, dass ich bei der Entstehung des Textes von vornerein involviert war und mit einwirken durfte. Daher durfte ich auch erneut einen Text für die Rückseite des Buches beisteuern. Ein spannender und beeindruckender Roman.
Zum Buch in unserem Onlineshop
Weitere Lesetipps von mir und tolle Gäste auf YouTube: Leseschatz-TV