J. M. Coetzee: „Der Pole“

Coetzees neues Werk spielt mit der Harmonielehre der Liebe. Im Mittelpunkt stehen zwei Menschen, denen es schwer fällt, die Gefühle zu benennen und somit, wie zwei Pole, sich anziehen und wiederum abstoßen. Der Titel deutet eine Doppeldeutigkeit an. Der Hauptcharakter ist ein gefragter Pianist aus Polen, dessen Namen für viele schwer auszusprechen ist und somit lediglich der Pole genannt wird. Pole steht aber auch für die Elektrizität und den Magnetismus. Somit spielt dieser Roman mit der Musiktheorie, der Erfassung der Akkordgestaltung und der Interpretation des Klangraumes und der menschlichen Harmonie im Verständnis der Liebe. Diese Suche nach dem Verständnis und der Sprache der Liebe wird gestützt durch Verweise auf  Chopin und Dante. Ein Roman mit großen Themen, der dennoch nicht überlagert ist und durch die Sprache und die knappen Szenen ein kurzweiliger Lesegenuß ist.

In Barcelona organisiert ein engagierter Kreis regelmäßig Konzerte. Witold, der Pole, ist ein siebzigjähriger Konzertpianist und ein bekannter Chopin-Interpret. Seine Interpretation ist umstritten. Sein Chopin ist nicht romantisch, sondern fast schon mathematisch, asketisch und trägt eher die Klangfarbe von Bach. Kurz bevor der Maestro in Barcelona eintrifft wird die Freundin von Beatriz krank. Die Freundin war es, die den Musikvirtuosen vorgeschlagen hatte und beide wollten sich um den Künstler während dessen Aufenthaltes kümmern. Beatriz ist mit einem Bankier verheiratet und beide trennen ihre Aufgabengebiete. Auch fehlt es in der Ehe an der damaligen Leidenschaft. Beatriz ist nun nach dem Konzert alleine die Gastgeberin und ist wenig von der Situation und dem Maestro begeistert. Sie mag sein musikalisches Verständnis nicht und seine Erscheinung wirkt auf sie gekünstelt und distanziert. Sie lässt die Musik dennoch auf sich wirken, denn Witold behauptet, er könne seine Leidenschaft eher durch die Musik wirken lassen als durch die Sprache. Der Abend gestaltet sich polarisierend. Denn Witold genießt die Gespräche mit Beatriz, die froh ist, die versteifte Pflichtveranstaltung hinter sich zu bringen.

Dass der Abend auf den Pianisten einen bleibenden Eindruck hinterlassen hat und er weiterhin an Beatriz denken muss, zeigt eine E-Mail, die sie plötzlich erreicht. Er sei wegen ihr erneut in Spanien und möchte sie einladen. Auch würde er sich freuen, wenn sie ihn auf seiner Tournee begleiten würde. Sie lehnt ab, besucht ihn dennoch in der Musikschule, wo er kurz gastiert. Sie fühlt sich geschmeichelt und ist dennoch von seinen Avancen abgestoßen. Ein Urlaub, den sie mit ihren Mann macht, ermöglicht dann doch ein erneutes Treffen. Denn ihr Mann bleibt nur eine Woche in dem Ferienhaus und sie etwas länger. Der Maestro besucht sie dort. Seine altmodische und aus der Zeit gefallene Art ist es, die neben seinen Komplimenten die Gefühls- und Gedankenwelt von Beatriz durcheinander gebracht hat. Sie erinnere Witold an die Beatrice von Dante Alighieri und sie schenke ihm Frieden. Die Anspielung an Dante bezieht sich auf die wahre, aber auch unerreichbare Liebe. So ist es auch in der Beziehung zwischen Witold und Beatriz. Die Leidenschaft ist für beide schwer zu finden und wird die Liebe, gleich der Sprache, scheitern? Die wahre Hymne zeigt sich erst als Beatriz die Geschehnisse reflektiert und eine große Distanz entstanden ist.

Ein großes Werk voller Hingabe zur Sprache, die sich erfüllt, verstummt oder missverstanden wird. Die jeweilige Interpretation und die Betonung der Wortklänge sind wie Musik, die einen individuellen Raum erschafft. Ein eleganter Liebesroman, der die Disharmonien und die Harmonien des Zwischenmenschlichen erklingen lässt. Der Roman wurde aus dem Englischen von Reinhild Böhnke übersetzt.

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