„Was heißt es aber, sich auf ein Denken `einzulassen´? Ich unterbreite hier den Vorschlag, sich auf das chinesische Denken einzulassen, um einen Abstand einzuführen, der uns enthüllt, wie wir selbst denken, innerhalb welcher Satzungen wir `zweifeln´: Ein Abstand, der uns nicht nur über unsere Frage nachdenken lässt, sondern mehr noch über das, was sie möglich gemacht hat und uns so sehr an sie bindet, dass wir sie für notwendig halten.“
In dem Buch geht der französische Philosoph und Sinologe François Jullien den Weg in das Innere der chinesischen Geisteswelt. Er studierte Chinesisch und ostasiatische Sprachen und Literaturwissenschaft in China und lehrt nun in Paris u.a. Philosophie.
In dem Buch „Denkzugänge. Mögliche Wege des Geistes“ zeigt er sein Wissen über die gegensätzlichen Philosophien, des östlichen und des westlichen Denkens. Er lädt den Leser ein, sich seine eigenen Gedanken zu machen. Was ist das Leben und kann man „leben“ erdenken? Reichen Worte aus, die Gedachtes vermitteln, um Leben zu beschreiben?
Jullien spannt den Bogen der ältesten Philosophen des hellenischen, hebräischen Denkens und deren Mystik zu den neuesten Denkern und Philosophen und stellt diesen die chinesischen Gedankenkomplexe gegenüber. Diese fußen im Taoismus, dessen Quelle das „Tao Te King“ – bzw. das „Daodejing“ von Laotse ist. Die beiden namensgebenden Begriffe stehen für etwas Unaussprechliches, das was aber jedem Leben innewohnt. „Ich kenne seinen Namen nicht, doch ich nenne es tao“ Laotse. Der Mensch kann die Wirkung des Tao, des Unaussprechlichen, erfahren, indem er die Erscheinungen der Welt beobachtet und seine Sinne vernachlässigt und sich der Stille zuwendet. Erst wenn wir unser Denken wirklich hinter uns lassen, können wir uns auf alternative Wege des Geistes begeben.
Ferner veranschaulicht Jullien anhand des „I Ging“ (Yi-Jing), der chinesischen Spruchsammlung bzw. dem Buch der Wandlung, was es heißt, verschiedene Wege des Denkens zu beschreiten.
乾 Das Schöpferische (Yi-Jing)
Es geht um das „Leben“. Das Leben leben als Tätigkeit verlangt gegenwärtiges Bewusstsein und benötigt daher ein Stillhalten. Es ist kein Warten auf das Leben sondern ein innehalten, um es möglichst zu erfassen. Ein Wechselspiel zwischen Begehren und Sättigung. Ein Bewusstsein, das erst im Innehalten der gegenwärtigen Stille, im „Jetzt“, verstanden werden kann. Kein verzögern des Kommenden, kein verbleiben im Gegangenen sondern das reine Gegenwärtige „Sein“ (siehe auch Eckart Tolle). Das Loslassen bedingt das zu Erfassende und ein Verschwinden bedingt das Erscheinende. Wir Menschen vernachlässigen die Gegenwart zugunsten eines Lebens in der Zukunft oder durch das gedankliche Nacherleben der Vergangenheit. Dies bedeutet laut Jullien, dass man „abwesend-anwesend“ ist. Die Gegenwart ist nicht auf einen mathematischen Punkt zu reduzieren. Das Bewusstsein ist unsere Existenz. Der innere stille Beobachter. Auch geht Jullien der Frage des Spirituellen und Göttlichen nach. Das Geistige und das Materielle sind stets aneinander gebunden und bedingen einander. Die Vergeistigung bildet das Materialisierende. Das Leben ist im Kleinen gleich dem im Großen: „wie oben so unten“ (Hermes Trismegistos). Das Ying und Yang: Alles durchwebt alles und möchte sich verbinden, einstimmen, d.h. ausgleichen und zusammenfließen.
Ein kluges Buch, das ich nicht einfach so nebenbei lesen konnte und auch einiges vom Leser abverlangt. Dadurch, dass ich viele spirituelle und philosophische Texte und Werke der östlichen Philosophie gelesen habe, hat es mir sehr viel Freude gemacht, den Gedankengängen von Jullien zu folgen. Ein sättigendes Buch, das viele neue Denkzugänge erschließt. Aber das Denken ist so unermesslich, dass man wohl nie an ein Ende gelangen wird. In dieser eiligen Welt ist dieses überbrückende Werk eine sinnvolle Reise in die Welt der „Denkzugänge“.
Zum Buch