Von Bodo Kirchhoff ist man umfangreicheres gewohnt, denn meist sind seine Romane, die stets klug und schön komponiert sind, dickere Wälzer. Jetzt ist dieser kurze Roman, seine Novelle „Widerfahrnis“, mit dem Deutschen Buchpreis 2016 ausgezeichnet worden.
Zwei gebildete Protagonisten, die sich mit Sprache, Literatur und Kultur auskennen, machen spontan einen Ausflug, um den Sonnenaufgang zu erleben. Dieser Ausflug verwandelt sich in eine Reise, eine individuelle Flucht, die entgegen dem Flüchtlingsstrom verläuft. Ein Abenteuer über neue zarte Liebe und das Älterwerden. Die Lust am Leben steht im Vordergrund, doch am Ziel scheitern sie an der Realität.
Der Kleinverleger nebst eigener kleiner Verlagsbuchhandlung Reither erzählt diese Geschichte, die ihm das Herz zerrissen hat. In der Gegenwart der Handlung hat er sein Geschäft aufgegeben, da es eine Flut an Büchern gibt und somit fast mehr Schreibende als Leser. Er lebt ruhig und zurückgezogen am Alpenrand. Er liest Werke aus der eigenen Bibliothek und trinkt mediterranen Wein, als er unerwarteten Damenbesuch bekommt. Palm, eine belesene Hutmacherin, die ebenfalls ihr Geschäft aufgegeben hat, da es keine Hutgesichter mehr gibt, ist länger im Flur auf und ab gegangen, bevor sie bei ihm klingelt. Sie sucht ihn als Buchliebhaber und Fachmann auf. Sie möchte ihn für ihren Lesekreis gewinnen. Er lädt sie auf eine Zigarette zu sich ein und beide vertiefen sich in ihr Gespräch und kommen sich beim Wein etwas näher. Wir erfahren aus der Vergangenheit, dass Reithers Ehe gescheitert ist, weil er und die damalige Frau sich beide für einen Schwangerschaftsabbruch entschieden haben und beide diese Entscheidung so fürchterlich fanden, dass sich ihre Wege trennten. Die Palm schwärmt für ihr Cabrio und schlägt eine Spritztour vor. Ein Ausflug zum Achensee, um den Sonnenaufgang zu erleben. Trotz der kalten Jahreszeit bringen sie den kränkelnden Wagen zum Starten und beide, noch Fremde, lassen sich auf das Abenteuer und aufeinander ein. So beginnt in dieser Nacht Reithers Widerfahrnis. Sie stoppen nicht und aus dem kleinen Ausflug wird eine dreitägige Fahrt bis nach Sizilien. Sie übernachten gemeinsam im Auto und es beginnt eine Liebe, die nichts Körperliches sucht. Sie fremdeln schon länger nicht mehr und sind Liebende. Doch im Süden Italiens treffen sie auf Flüchtende, auf Menschen, die nicht dem Alltag sondern dem Krieg und dem Schrecken zu entfliehen versuchen. Ein stilles Mädchen, eines der Geflüchteten, tritt in Catania in das Leben von Reither und der Palm.
Ein Buch über die zarte und egoistische Liebe. Kann man Liebe geben ohne ausreichend zu lieben? Kann man mitfühlend handeln ohne ausreichend gut zu sein? Eine wunderschöne, traurige Geschichte in einem kurzen, aber vollen Buch.
Ein würdiger Preisträger. Kirchhoff fesselt durch Inhalt und Sprache. Ein großer Roman verborgen in einem kleinen Buch.