Iris Wolff: „So tun, als ob es regnet“

Wolff So tun als ob es regnet otto müller verlag

Ein Roman, der in vier Erzählungen Momente im Leben der Protagonisten festhält, in denen die Autorin der Frage nachgeht, was den Einzelnen bezogen auf die Geschichte der familiären Vergangenheit prägt. Gibt es eine Freiheit, ein Losgelöstsein von der Geschichte? Haben wir einen freien Willen? Es treten Dinge und Verhaltensmuster in unser Leben, die zu unserem Charakter gehören, ohne dass wir eine Kenntnis davon haben, woher diese stammen.

Es sind keine unabhängigen Erzählungen, sondern über vier Generationen und vier Ländergrenzen erzählt Iris Wolff über außergewöhnliche Momente, die durch die gemeinsamen Figuren und deren Kinder zusammenfinden. Der Roman beginnt im Ersten Weltkrieg in Rumänien, endet auf den Kanarischen Inseln und umspannt dabei das zwanzigste Jahrhundert.

Jacob, ein österreichischer Soldat, ist mit seiner Truppe im Zug. Sie sind unterwegs zu einem neuen Einsatzort und sie mutmaßen, wohin ihr Transport geht und es wird Budapest gemunkelt. Doch der Zug fährt weiter und Jacob kommt in ein kleines Karpatendorf. Er steht dem Einsatz misstrauisch gegenüber und erkennt im Feind den Menschen, der doch dieselben Bücher liest. Dies lässt ihn auch zum Lebensretter werden, d.h. in einem bestimmen Moment tötet er nicht. Er wird bei einer Bauernfamilie einquartiert, die ihn mehr oder weniger gastfreundlich aufnehmen. Es entsteht eine Bindung zwischen der jüngsten Tochter, der Frau des Hofes und ihm. Bevor seine Truppe weiterzieht, kommt die Frau in der letzten Nacht in sein Bett und erwartet, nachdem er in den Wirren des Krieges untergeht, ein Kind von ihm. Dieses Kind, Henriette, gesellt sich als junge Frau gerne zu den Schlaflosen, die sich nachts im Garten von Elmér treffen. Henriette ist eine starke Frau, die ihren Weg gehen wird. Ihre Schwester hat nicht so viel Glück und wird nach dem Zweiten Weltkrieg nach Russland verschleppt. Henriettes Sohn, Vicco, taucht in der dritten Geschichte als Motorradfahrer auf, der seinen Tod vor Augen hat und befürchtet, die Übertragung der Mondlandung zu verpassen. Immer wenn Vicco über etwas nachdenken möchte, besteigt er sein Motorrad. Hedda, seine Tochter, bewundert ihre Großmutter Henriette, von der sie auch einen Ring erbt, den Henriette vor langer Zeit selbst geschenkt bekommen hatte. Hedda beobachtet auf den Kanaren ein Fischerboot, das mit einem Paar die Hafenmole verlässt und tags darauf vermisst wird.

Das Buch ist Länder und Zeiten umspannend und lehrt, dass nicht unbedingt die Hauptfiguren immer die wichtigen sind. All jene, die in Romanen wie nebenbei erwähnt werden, gehören ebenfalls nicht vergessen. Man taucht ein in eine literarische Welt, in der sich die Grenzen zwischen Fiktion und Wirklichkeit aufheben. Die Geschichte und die jeweilige Politik bleiben im Buch die eigentlichen Nebenfiguren, denn es sind die Charaktere, die stets im Vordergrund stehen. Besonders Henriette bekommt durch die drei Geschichten, in denen sie auftaucht, eine bleibende Tiefe. Ein Roman, der durch Kleinigkeiten groß wird und im zarten, poetischen Ton die Individualität hervorhebt. Das Verständnis einer Gesellschaft aufgezeigt in persönlichen Ereignissen. Das Buch lässt uns Leser eintauchen, wegträumen und den tatsächlichen Augenblick vergessen. Dieses körperlich anwesend sein und doch mit seinen Gedanken ganz aus der Zeit und dem Raum zu gehen, nennt Henriettes Mutter „So tun als ob es regnet.“

Die ganze Aufmachung des Buches überzeugt. Gestaltung und Inhalt sind trefflich abgestimmt. Ein tiefgründiger, kurzweiliger Roman, der sprachlich schön geschrieben ist. Ein atmosphärisches, wunderschönes Buch, das sich immer mehr im Leser entfaltet.

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3 Kommentare

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3 Antworten zu “Iris Wolff: „So tun, als ob es regnet“

  1. Lieber Hauke,
    Deine Buchbesprechungen lese ich stets gerne und mit Genuß, doch diesmal hast Du eine ganz besonders ansprechende und INSPIRIERTE Rezension geschrieben!
    Schmetterlingsflügelleichte Frühlingsgrüße von
    Ulrike 🙂

  2. Pingback: [Rezension] So tun, als ob es regnet – the lost art of keeping secrets

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