Ein großer Roman über das amerikanische Idyll, in das langsam das Chaos einsickert. Die Handlung spielt in einer Kleinstadt, die im Bundesstaat New York liegt, und hält die Ereignisse des Feiertagswochenendes um den Memorial-Day fest. Innerhalb dieser überschaubaren Zeitspanne versteht es der Pulitzer-Preis-Träger Russo einen ganzen Kosmos an besonderen Geschehnissen entstehen zu lassen und wendet sich voller Zuneigung allen seinen Figuren zu. Der Genuss des Buches liegt gerade in der Fülle der Charakterisierungen und der Liebe zum Detail, die trotz der Dicke des Werkes niemals ausufert oder seicht mäandert. Als Leser ist man schnell dieser Kleinstadt und ihren Bewohnern verfallen und man verbringt gerne seine Zeit mit den bodenständigen, skurrilen, zweifelnden und allen weiteren handelnden Protagonisten.
North Bath hat den Aufschwung verpasst und vieles versiegt in der gebeutelten Landschaft: die Quellen, die Investoren und die Steuereinnahmen. Lediglich der Bürgermeister hält tapfer fest an seinem Glauben an seine Stadt. Doch die Einwohner werden Zeuge, wie die Nachbargemeinde ihren Aufschwung erlebt, während North Bath immer mehr kränkelt. Die Industrie und mit ihr auch der Immobiliensektor brechen im wahrsten Sinne des Wortes zusammen. Ferner breitet sich ein übler Gestank aus, der den Menschen zu schaffen macht und an die Erblast vorangegangener Planungen und Kommerzialisierungen erinnert. Der letzte Zufluchtsort ist allabendlich, sofern man erwerbstätig ist, sonst wohl schon eher, die Gastronomie, sprich der Imbiss und die Bar, in der es schales und billiges Bier zu trinken gibt.
Die Handlung beginnt mit einer Beerdigung. Ein angesehener Richter ist verstorben und wird beigesetzt. Es treten die Menschen an sein Grab, die ihm, gewollt oder gefühlt erzwungen, die letzte Ehre erweisen möchten. Unter ihnen der Polizeichef Douglas Raymer. Seine Selbstzweifel lassen ihn am Grabe nicht nur metaphorisch schwanken. Seit der Schule hadert er mit sich und durch seine Lehrerin angetrieben ist er schriftlich sowie gedanklich immer auf der Suche nach seinem wahren Ich. Seine polizeiliche Laufbahn stellt er ebenfalls in Frage und wurde darin auch durch einige Missgeschicke seinerseits bestärkt. Auch der Verstorbene hat in Raymer nicht die vorbildliche Führungsfigur gesehen, die man üblicherweise von einem Polizeichef erwartet hätte. Daher ist Raymers Anwesenheit während der Beerdigung eher ein pflichtvolles Erscheinen. Gedanklich ist er ganz woanders. Er fühlt sich zu seiner farbigen Kollegin hingezogen, hat aber den Verlust seiner Ehefrau, Becka, noch nicht ganz verarbeiten können. Becka war dabei, ihn zu verlassen. Er hatte schon immer geahnt, dass seine Frau etwas Besseres verdient hatte und alle in seinem Umfeld gaben ihm das Gefühl, dass es ein Wunder war, dass Becka überhaupt ihn geheiratet hatte. Becka verliebte sich in einen anderen Mann und an dem Tag, als sie Raymer verlassen wollte, machte sie einen ungeschickten Hüpfer von der Treppe und verstarb. Im Fahrzeug fand der Polizist die erste Spur zu dem Mann, der ihm seine Frau genommen hatte. Unter dem Sitz verkeilt lag eine Fernbedienung für ein Garagentor. Sein Plan war es nun, alle Tore in der Ortschaft auszutesten, doch durch einen Schwächeanfall fällt Raymer in das offene Grab des Richters und verliert nicht nur erneut das Ansehen, sondern auch das einzige Beweisstück.
So breitet sich langsam, während der Feierlichkeiten zum Memorial-Day, das Chaos in der Ortschaft aus. Die Besitzerin des Lokals führt privat einen kleinen Krieg mit ihrem Mann um den verbleibenden Wohnraum. Er organisiert Garagenverkäufe, d.h. private Flohmärkte und sammelt alles, was er noch meint reparieren und in Geld umwandeln zu können. Dies ist eher sein Hobby, das allerdings so weit geht, dass bald schon das Gartengewächs einem riesigen Schuppen weichen muss. Dann ist da noch ein ehemaliger Sträfling, der seine Liste abarbeitet. Seine handschriftliche Liste umfasst fünf Namen, an denen er sich rächen möchte. Als weitere Figur taucht ein alternder und kränklicher Bauunternehmer auf, dessen Gebäude eines Tages einfach eine Wand nicht mehr halten kann. Es sind Gelegenheitsarbeiter, einfache Handwerker, Handlanger oder Staatsdiener, die durch ihre ausgewählte Sprache dem Proletariat entkommen möchten. Es sind Wendungen und Ereignisse, die von den Protagonisten herbeigeführt werden oder in deren Leben treten, die an diesem Wochenende aller Leben beeinflussen. Besonders steht im Vordergrund die Suche nach der Fernbedienung und dem eigentlichen Besitzer, die den Suchenden auch vor einer Grabschändung nicht zurückschrecken lässt. Das ausufernde Alltagsdrama innerhalb dieser Kleinstadtidylle wird noch durch eine entlaufene Kobra verstärkt.
Das Buch nimmt den Leser in seinen Bann und durch die Liebe zum kleinsten Detail, das stets zwischen Drama und Komik schwankt, wird die Lektüre, gerade durch das großartige Personal, zu einem großen amerikanischen Roman. Der Roman beinhaltet die persönlichen und wirtschaftlichen Entwicklungen im Mikrokosmos des Bürgerlichen in der Randregion des Staates New York. Richard Russo erzählt tiefgründig, unterhaltsam und in einem klugen Ton über das menschliche Miteinander, das durch die Revierkämpfe der Egos, die Einflüsse aus dem Umfeld und die hineingesteigerten Nichtigkeiten scheitern kann. Die Handlungsstränge verdichten sich gleich den Gerüchen nach schalem Bier, Klosteinen und dem industriellen Erbe, das nicht nur die Landschaft verpestet.
Ein Buch, in dem man sich zügig zuhause fühlt und sich mit den Bewohnern der Stadt, d.h. den Figuren des Romans, anfreundet und das man ungern wieder verlässt.
Siehe auch die Besprechung auf: AstroLibrium
Lieber Hauke,
deine schöne Besprechung hat mich sehr neugierig auf das Buch gemacht. Zwischen „Drama und Komik“ gefällt mir bestimmt.
Liebe Grüße von den Vorlesern
Pingback: Blogbummel Juni 2017 – 1. Teil – buchpost
Auch wir danken für den Hinweis auf das Buch.
Mit herzlichen Grüßen vom kleinen Dorf am großen Meer
The Fab Four of Cley
Sehr gerne! Herzliche Grüße aus Kiel, Hauke