Ein Blues-Song, den es eigentlich nie gab ist der Auftakt eines Abenteuers, das die Protagonisten und uns Leser in einen Strudel der Ereignisse reißt. Es geht um die Besessenheit von Musik und deren Geschichte. Am Ende des Romans verbindet sich alles. Alles wird ein Klang, gleich einem Song voller Blues. Alle Figuren sind verbunden, vermischt und der Klang, den Sie hinterlassen schafft ihre Verbindung zum Leser. Blues ist Schmerz und Leid und hat eine tiefverwurzelte Geschichte. Er ist Ursprung, Quelle und Inspiration vieler Musiker, Stile und Genres. Musik hebt die lineare Zeit auf. Gefühle der Vergangenheit können in der Gegenwart nachempfunden werden und reichen weit bis in die Zukunft. „I’ve got the blues” oder “I feel blue” ist die Ableitung und die Erklärung des Blues. Wenn die Traurigkeit, das Leid und der Schmerz die eine Seite sind, was befindet sich dann auf der anderen Seite, der B-Seite? Ein unerträgliches Lachen?
Es beginnt mit zwei Freunden, die in New York leben und zusammen ein Tonstudio betreiben. Carter kommt aus einem vermögenden Elternhaus, dessen Familienbesitz tief in der amerikanischen Geschichte fußt. Seth ist mittellos, lebt von der Unterstützung durch Carter und ist stets auf der Suche nach Tönen. Beide sind musikalisch kreativ und verdienen ihren Lebensunterhalt als Musikproduzenten. Seth streift mit seinem Aufnahmegerät durch New York, immer in der Hoffnung auf neue Töne. Während einer seiner Streifzüge nimmt er im Tompkins Square Park einen Gitarristen auf und entdeckt bei einer seiner Aufnahmen, die er im Washington Square Park gemacht hatte, eine unbekannte Stimme, die einen Blues voller Emotionen singt. Hier zeigt sich eine der Stärken des Autors, der es großartig versteht, Musik in Sprache zu verwandeln. Im Studio säubern sie die Spur und kristallisieren den Song heraus. Carter legt den Gesang über das aufgezeichnete Gitarrenspiel, das perfekt mit dem Gesang harmoniert. Sie verwandeln die Datei in eine glaubwürdige Aufzeichnung, voller Knacken, Knistern und typischen analogen Nebengeräuschen. Der Song bekommt dadurch etwas sehr tiefes, altes und glaubwürdiges. Sie stellen den Song ins Internet und Carter schreibt aus Spaß diesen Song einem fiktiven Interpreten Charlie Shaw zu, der diesen Blues 1928 aufgenommen haben soll. Der Song wird eine Sensation und viele Sammler werden hellhörig. Besonders einer, der in jedem Forum versucht, Kontakt mit Carter und Seth aufzunehmen. Er würde die Aufzeichnung kennen und die Platte schon seit Ewigkeiten suchen, denn er wolle wissen, was auf der B-Seite ist. Seth trifft sich mit diesem Sammler, der wirklich behauptet Charlie Shaw hätte tatsächlich gelebt. Jetzt beginnt eine Talfahrt für alle Protagonisten, denn Carter wird plötzlich überfallen und liegt seitdem im Koma. Seth begibt sich mit Carters Schwester, Leonie, für die Seth sehr viel empfindet, auf eine Art Mission. Sie reisen in den Süden der USA zu dem Ursprung des Blues auf der Suche nach dem vermeintlich fiktiven Sänger Charlie Shaw. Die Reise von Seth und Leonie verläuft irgendwann parallel zu der damaligen Reise der besessenen Plattensammler, von dem einer in der Gegenwart behauptet, Charlie Shaw als Musiker zu kennen. Die beiden Erzählstränge verlaufen nebeneinander und langsam vermischt sich alles. Alles wird mysteriöser und die Naturgesetze scheinen sich aufzuheben. Die Reise geht zurück zum Ursprung des Blues und in die schwarze Geschichte Amerikas. Eine Reise in die Vergangenheit voller Trauer, Schmerz und Tod.
Seth verliert den Bezug zur Wahrnehmung der Zeit, besonders zur Gegenwart und seiner Zukunft. Seine Welt löst sich auf und der Schmutz der Vergangenheit wird aufgewirbelt. Alles wird ein Echo, denn Schallwellen verschwinden anscheinend nie ganz. Sie werden schwächer, aber die Resonanz bleibt wahrnehmbar. In der Gegenwart ist das Knacken und Knistern des Vinyls der Digitalisierung gewichen. Kunst wird auf Einsen und Nullen reduziert und immer weiter komprimiert und büßt dadurch etwas von seiner Seele ein.
Das Buch ist eine literarische und musikalische Reise in das finstere Herz Amerikas. Eine großartig erzählte Geschichte und ein wunderbarer, düsterer sowie poetischer Roman.
Leseschatz-TV: Bücher mit Musik u.a. mein Highlight: „White Tears“ von Hari Kunzru
Hallo Hauke,
das hört sich nach einem ganz besonderen Buch an, das ich noch gar nicht auf dem Schirm hatte. Werde mir den Titel auf jeden Fall merken und ich danke dir für den tollen Tipp! 🙂
Lieben Gruß von Tina