Das Bild einer Krabbenwanderung verdeutlicht den Drang, die Heimat zu verlassen auf der Suche nach einem besseren Leben. Es sind nicht die Schwierigkeiten des Auswanderns, die hier im Vordergrund stehen, sondern die des Ankommens. Die blutroten Krabben machen sich vom Landesinneren auf den Weg ans Meer, um dort ihre Eier abzulegen. Diese Metapher beinhaltet den Kern des Romans und verdeutlicht gerade durch die Bewegung der Krabben, die wohl doch auch mal einen Schritt vor machen, um dann wieder zwei zurückzumachen, den Wunsch endlich anzukommen.
Dieser kraftvolle Debütroman handelt von einer kurdischen Familie, die aus dem Irak geflohen ist und in Deutschland lebt. Im Mittelpunkt steht Sanaa, eine zweiundzwanzigjährige Studentin. Sanaas Geschichte ist wohl eng mit dem Erlebten der Autorin verbunden. Karosh Taha wurde im Nordirak geboren und lebt mit ihrer Familie in Deutschland. Es ist eine Kunst, die Idee einer Geschichte in richtige Worte zu kleiden und dabei die Emotion, die hinter dem Erzählten steht, zu transportieren. So wird man regelrecht in eine Sprache hineingezogen, die kraftvoll und den Gefühlen der Protagonistin folgend auch mal derb sein darf. Der ganze Roman lebt besonders durch sein Personal. Die Figuren sind sehr lebendig und skurril entworfen und gehen dem Leser wohl länger nicht mehr aus dem Kopf.
Im Roman tauchen immer wieder die roten Krabben auf. Mal im Traum oder in der Erinnerung. Sanaa wurde an einem Strand im Irak von einer Krabbe gezwickt. Als sie fragt, warum die Krabbe das gemacht habe, wird ihr erzählt, dass diese Krabbe wohl bei der Wanderung verlassen, d.h. vergessen wurde und sich nun unwohl fühlt und alle zwicken möchte. Die Familie ist aus dem Irak geflohen. Der Traum von Europa wuchs im Vater und durch die Schussverletzung seiner Frau machten sie sich auf den Weg und strandeten in Deutschland. Nun leben sie in einem Hochhaus in einem Stadtteil, der von vielen Kurden belebt wird. Sanaa studiert und hat einen Freund und auch noch einen Liebhaber. Sie ist immer irgendwie dazwischen. Die Mutter leidet an Depressionen und dadurch versucht Sanaa für ihre jüngere Schwester eine Bezugsperson zu sein. Die Schwester ist noch jung, orientierungslos und gerne wütend. Der Vater wechselt oft die Arbeit und ist meist nicht zuhause. Um sein Wegbleiben ranken sich viele Ungereimtheiten und Geschichten. Ebenfalls das Kennenlernen, die Ehe der Eltern und die Flucht der Familie ist Sanaa in mindestens drei verschiedenen Versionen erzählt worden. Die Mutter zieht sich zurück, verschläft die Tage und steht dann wieder auf dem Balkon und man befürchtet das Schlimmste. Sanaa beginnt sich langsam aufzubäumen. Besonders gegen die bestimmende Tante, die ihre Wohnung belagert und immer Tabakrauchend Sanaa die Luft raubt. Der Drang nach Freiheit und Unabhängigkeit wächst in ihr und sie sucht überall ihre kleinen Fluchten. Der Blick zurück auf das Hochhaus wirkt auf sie wie der Blick in viel zu viele Augen, die sie durch die Fenster anstarren und beobachten. Sie hat auch das Gefühl, verfolgt zu werden von einem großen Mann, den sie wegen seines Wagens lediglich Volvomann nennt und der später enger in ihr Familienleben eingreift, als sie bisher ahnt. Sanaa rebelliert und ist dennoch sehr fürsorglich für ihre Familie und möchte allen gerecht werden und versuchen, alle Wunden zu heilen. Ihr innerer und äußerer Kampf nach Freiheit stellt sie vor große Entscheidungen. Als sich der Rauch der Tante verzieht, wird der Stadtteil mit einem Nebel bedeckt. Jetzt kann Sanaa weiterwandern ohne gesehen zu werden. Doch ist gerade darin die Gefahr für ein gesellschaftliches oder familiäres Miteinander, man lässt sich gegenseitig in Ruhe, geht nicht aufeinander zu und redet nicht miteinander.
Ein intensiver Roman über das Ankommen und die Suche nach Freiheit. Eine Heldin, die anfänglich im Dazwischen lebt: Herkunft und Heimat, Erinnerung und Zukunft, Verantwortung und Losgelöstsein, Geschichten und Wirklichkeit. Ein Roman, der voll ist von Bildern, Leben und Charakteren, die im Leser lange nach Beenden des Textes leben und ihn begleiten werden. Die Sprache ist gehaltvoll und stets zur Szenerie und Figur passend gewählt. Ein Buch wie eine Reise, die man erst beim Ankommen, d.h. beim Zuklappen, gänzlich reflektiert und merkt, wie wohl man sich in der Geschichte und ihren Menschen gefühlt hat. Wieder ein Debüt, das mich begeistern konnte.
Siehe auch Leseschatz-TV: Debütantinnen:
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