„Im Bauch der Königin“ verführt uns, spielt mit uns und ist eine, nein, es sind mindestens zwei großartige Geschichten. Es sind nicht nur zwei Möglichkeiten, zwei Wahrheiten oder Perspektiven, die Karosh Taha aufzeigt. Was ist Wahrheit und Realität? Gibt es die Wahrheit ganz und unbedingt oder ist diese ein individuelles Konstrukt? Es ist ein wahrlich besonderes Buch. Auch die Aufmachung, in einem Wendeformat, ist sehr gelungen. Denn hat man die eine Geschichte beendet, wendet man das Buch und liest eine ganz andere und doch irgendwie dieselbe, die uns die vorherige ganz anders darstellt. Ein Buch mit zwei Körpern, die sich verbinden und doch jeder für sich steht.
Dies ist der zweite Roman von Karosh Taha. Sie wurde im Nordirak geboren und lebt mit ihrer Familie in Deutschland. Ihr Debüt „Beschreibung einer Krabbenwanderung“ war ein intensiver und toller Roman über das Ankommen und die Suche nach Freiheit. „Im Bauch der Königin“ erzählt gleich der vorherigen „Krabbenwanderung“ von der deutsch-kurdischen Gemeinschaft und ist großartige Literatur. Die Autorin konnte sich zu ihrem Debüt enorm steigern.
Beide Bücher, die zusammen ein ganzes ergeben, sind auch unterschiedlich geschrieben. Dabei ist es für den Leser nicht wichtig, mit welcher Geschichte er beginnt. Wobei das Lesebändchen wohl einen kleinen Hinweis zu geben vermag. Beide Geschichten sind Wahrnehmungen um einen identischen Personenkreis, in dessen Zentrum der Bauch der Königin in Form einer freizügig lebenden Frau Shahira auftaucht. Sie ist aber stets das zentrale Bauchgefühl und nicht die wirkliche Hauptfigur. In der ersten Geschichte berichtet die Ich-Erzählerin Amal. Sie wird als ein Mogli-Kind bezeichnet, weil sie als Mädchen unter Jungs groß wird und sich oft wie ein solcher benimmt. So hat sie auch gleich zu Beginn des Textes ihren Mitschüler Younes verprügelt. Da sie ein Mädchen ist, wird ihr dies angelastet und viele gehen auf Distanz zu ihr. Doch ist es ihre anfängliche Art, für sich einzustehen und sich in der Welt zu behaupten. Frauen werden in dieser Community auch unterschiedlich angesehen. Besonders Shahira, die Mutter von Younes. Sie bricht mit ihrer Freizügigkeit einige Regeln und begeistert durch ihre Erscheinung und stößt gleichermaßen die Gemeinschaft ab. Später freundet sich Amal besonders mit Younes an. Beide suchen ihre Zuflucht beieinander. Younes ist lange in einem selbstauferlegten Wartemodus, weil er sich seinen Vater zurückwünscht und ist dadurch im Freundeskreis sehr verletzlich. Amals Vater geht eines Tages ebenfalls. Er als Architekt hadert mit seinen beruflichen Möglichkeiten in Deutschland und verlässt die Familie. Amal, Younes und Shahira werden in der Gesellschaft zu Außenseitern und beschützen sich gegenseitig. Besonders vor der Clique um Raffiq, die immer wieder provoziert. Jahre später kommt es zu einer Eskalation und Zerwürfnissen der Freunde und Lebenswünsche. Amal begibt sich daraufhin auf die Suche nach ihrem Vater in Kurdistan.
Die gewendete Wahrnehmung stellt Raffiq in den Vordergrund. Erneut sind es Younes und seine freizügige Mutter Shahira, die das Zentrum der Aufmerksamkeit bilden. Raffiqs bester Freund ist Younes, der sich sehr kraftvoll entwickelt hat. Keiner möchte sich ihm in den Weg stellen und schon gar nicht mit ihm kämpfen. Raffiqs Gedanken kreisen oft um Shahira, die für ihre Lebensweise von vielen in Frage gestellt wird. Als sie anfangen sollen, sich um ihre Zukunft zu kümmern, ist in Raffiq immer noch einiges im Unklaren. Seine Freundin, Amal, plant einen Auslandsaufenthalt mit ihrer Freundin in Amerika. Da Raffiq die Distanz stört, versucht er diese Reise zu boykottieren. Sein Vater, der seine Familie verlassen hat und in der Gastronomie in Frankfurt tätig ist, kann bei seiner Lebensplanung auch nicht mehr aktiv behilflich sein. Raffiq muss sich der Frage stellen, was er im Leben eigentlich will.
Bei beiden Sichtweisen gibt es Überschneidungen, wie zum Beispiel den Badesee und die sogenannte Königin des Buches. Aber hat man die eine Wahrnehmung gelesen, wird diese fast gänzlich anders erneut dargestellt. Menschen erscheinen ganz anders und deren Rollen in der Gesellschaft und in dieser Handlung sind plötzlich ganz andere. Zwei Perspektiven werden beleuchtet und die jeweiligen Realitäten können ganz andere sein. Es werden Handlungen unterschiedlich bewertet, beurteilt und gedeutet. Auch die Geschlechterfrage ist dabei bei der Betrachtung von Bedeutung. Welche ist wahr? Bestimmt beide. Vieles wird durch die kunstvolle Wendung neu oder anders bewertet. Ohne es zu merken hat Karosh Taha uns, den Leser, leicht manipuliert und gerade dadurch begeistert.
Karosh Taha schreibt einfach wunderbar. Sie hat viel zu sagen und zu erzählen. Man kann nach Beenden des Textes hoffen und wünschen, dass man weiterhin viel von der deutschsprachigen Schriftstellerin zu lesen bekommt.
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Wie wunderbar, „Beschreibung einer Krabbenwanderung“ liegt schon ganz lange auf meinem Bücherstapel und auch der indirekte Nachfolgerband hört sich sehr, sehr spannend an! Ich nehme deine Rezension jetzt wirklich mal zum Anlass, zu diesen Büchern zu greifen. 🙂