Lars Mytting hat nach „Die Birken wissen’s noch“ erneut eine nordische Familiensaga geschrieben, die sich Stück für Stück entfaltet und deren Kern sich langsam herausschnitzen lässt. Diesmal geht die Reise weiter. „Die Glocke im See“ spielt in einem abgelegenen Tal in Norwegen im Jahr 1880. Lars Mytting ist ein naturverbundener Autor, dessen Werke sich auch gerne um das Holz drehen: Wälder, Bäume und Kunstwerke, die aus Holz geschaffen, gebaut oder geschnitzt wurden. Im Zentrum steht in „Die Glocke im See“ eine Stabkirche, die die Verbindung der nordischen, naturverbundenen Götterwelt und der Christianisierung verdeutlicht. Eine Kirche, die neben der christlichen Symbolik auch die kunstvollen Schnitzereien und Bildnisse der althergebrachten Götter- und Sagenwelten duldet. Dies ist auch der Kern des Romans, die Dualität zwischen den Glaubensrichtungen, der Einzug der Moderne neben den althergebrachten Gewohnheiten und Lebensweisen. Diese zwei Welten werden auch durch die Zwillingsglocken jener Stabkirche symbolisiert.
Um diese Glocken ranken sich Mythen und Geschichten. Gerade zu jener Zeit, in der der Roman spielt, war der Aberglaube weit verbreitet. Der über die Ländereien weitklingende Silberklang der Glocken hat seine Herkunft durch ein Familiendrama. Auf dem Hekne Hof kommt es zu einer der schwierigsten Geburten, die das dunkle Tal in Butangen bisher erlebt hat. Es kommen siamesische Zwillinge zur Welt, die dem Dorfleben viel Freude bereiten. Besonders ihre Wendteppiche, die die Schwestern mit viel handwerklichem Geschick weben, bekommen einen besonderen Stellenwert. Kurz vor der Volljährigkeit werden die Zwillinge todkrank und sterben. Der Vater spendet der Kirche die Zwillingsglocken, die er mit seinem ganzen Silber und mit einigen Haaren der Mädchen gießen ließ. Seitdem werden den Glocken übernatürliche Kräfte nachgesagt. Sie sollen von alleine läuten, sollte Gefahr drohen.
In diesem dunklen, abgeschiedenen Tal lebt im Jahr 1880 die junge und kluge Astrid Hekne, eine Nachkommin der Familie jener Hekne-Schwestern. An einem frostreichen Sonntag erfriert während des Gottesdienstes die ältere Klara Mytting. Dies veranlasst später den jungen Pfarrer Kai Schweigaard dazu, seine Zukunftspläne gegenüber der Gemeinde zu öffnen. Er hat, in der Hoffnung auf eine steilere Karrierelaufbahn, vor kurzem die kleine Pfarrei in Butangen mit der siebenhundert Jahre alten Stabkirche übernommen. Er hat bereits seine Kontakte spielen lassen, denn er möchte das alte, fast heidnische Gebäude durch eine modernere und größere Kirche ersetzen. Sein Anliegen erreicht Dresden. Dort ist man von dem Drang, die alten Kirchen und deren Schnitzereien als Feuerholz verkommen zu lassen, entsetzt und entsendet Gerhard Schönhauer, um den Abtransport der Kirche zu organisieren. Gerhard Schönhauer ist Student und hat kein Geld für die verlangten Studienreisen, daher wird ihm diese Reise nahegelegt.
Zwischen den Welten, zwischen der Einkehr der Moderne und diesen beiden Männern, dem Pfarrer und dem jungen Studenten, steht nun Astrid. Sie träumt auch von einem anderen Leben, fern vom alltäglichen Hof- und Dorfleben. Sie ist wissbegierig und freut sich zum Beispiel über die Zeitungslektüre, die ihr der Pfarrer zukommen ließ. Sie unterstützt Kai Schweigaard bei seiner Eingliederung in das Dorfleben und die Gemeinde. Sie ist es auch, die ihm die Augen öffnet für das entbehrungsreiche Leben in der Abgeschiedenheit. Denn Gottesfurcht ist schön, aber Hunger und gesunder Menschenverstand werden immer stärker sein. In ihr rumort das Hin- und Hergerissensein, der Zwiespalt zwischen dem Althergebrachten und der Moderne. Als sie hört, dass die alte Kirche abgerissen und in Dresden neuaufgebaut werden soll, beginnt sie zu rebellieren. Denn dann würden ja auch die Glocken verschwinden, die ihre Familie einst der Gemeinde gespendet hat. Auch in der Liebe muß sie ihren Weg finden. Gerade ist sie dem Pfarrer etwas nähergekommen, als Gerhard Schönhauer, der so ganz anders ist als die Männer in Butangen, im Tal eintrifft. Entscheidet sie sich für die Heimat oder für einen Aufbruch in eine moderne, ungewisse Zukunft? Hat das Schicksal ganz andere Pläne und bewahrheitet sich letztendlich die Legende um die Zwillingsglocken?
Ein Roman, der ganz leise und in einer eisigen Schneelandschaft beginnt. Alles ist gedämpfter, stiller und naturverbunden. Mit der Schmelze werden die eigentlichen Umrisse und Schmerzmomente immer deutlicher. Die Kontraste vertiefen sich und gleich einem gewebten Wandteppich baut sich die Handlung immer klarer auf. Das Nachtrauern des Alten und Bewährten steht der Glorifizierung der Moderne gegenüber. Beides ist für sich nicht besser oder schlechter. Lars Mytting verbindet erneut historische und mystische Ereignisse in einem Familien- und Liebesroman. „Die Glocke im See“ ist der erste Teil einer Trilogie. Ein melancholischer, schöner Roman.
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Hallo,
da fällt mir doch direkt ein, dass ich eigentlich auch „Die Birken wissens noch“ schon ewig lesen will…
Aber „Die Glocke im See“ klingt auch sehr gut – aber alleine die Vorstellung, so eine schöne alte Stabskirche abreißen zu lassen! Ich habe mir in Norwegen ein paar angeguckt, die sind doch wunderschön…
LG,
Mikka
[ Mikka liest von A bis Z ]
Hallo Hauke,
dieses Buch habe ich auch auf dem Schirm. Dass es der Auftakt einer Trilogie ist, wusste ich noch gar nicht. 🙂
Liebe Grüße, Heike
„Die Birken wissens noch“ habe ich vor einiger Zeit als fesselnde Geschichte aus der Natur Norwegens gelesen. Heute wurde ich von einer Kollegin auf das neue Buch „die Glocke im See“ aufmerksam gemacht – ich werde nicht zögern, mir dieses Buch in der hiesigen Bibliothek baldmöglichst auszuleihen.
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