Jakuta Alikavazovic: „Das Fortschreiten der Nacht“

Jakuta Alikavazovic Das Fortschreiten der Nacht Nautilus

Was bedeuten Liebe, Zuflucht und Schutz? Was macht die zunehmende Angst mit dem Miteinander und der Gesellschaft? Wie wirkt sich Krieg auf Kunst aus und kann Kunst Kriege verhindern? Wie entwickeln sich unsere Städte, die Wohnstätten und Heimatorte durch die aufkommenden Ängste? „Das Fortschreiten der Nacht“ beginnt mit Nächten in Paris. Diese Nächte erzählen neben der anfänglichen Leidenschaft auch die Geschichte der versehrten Städte und Menschen. Der Wunsch nach Schutz und die Sehnsucht nach Frieden und Freiheit keimen in jeder Dunkelheit.

Gleich den Nächten, d.h. den wechselnden Tageszeiten, wiederholt sich anscheinend auch immer wieder die Geschichte. Im Zentrum steht eine ungleiche Liebe, die ihren Anfang in Paris nimmt. Der Kern des Romans ist dann der Jugoslawienkrieg, der seine Wirkungswellen für die Protagonisten bis in die Gegenwart schlägt.

Paul ist der Sohn eines Maurers aus einem Pariser Vorort. Er studiert Architektur und verdient sich seinen Unterhalt als Rezeptionist in den Nachschichten eines Hotels. Dort lernt er Amélia kennen, die ebenfalls Architektur studiert und in dem Hotel wohnt. Denn das Hotel, das zu einer Kette gehört, ist im Besitz ihrer Familie. Beide versuchen, ihrer Vergangenheit zu entkommen. Paul versucht, seiner Herkunft zu entfliehen. Amélia ist die Tochter eines reichen Vaters, der sich aber nie um sie kümmerte. Ihre Mutter, Nadja, ist irgendwie verschwunden. Nadja wollte dem Krieg mit Kunst und Poesie entgegentreten, diesen sogar aufhalten und zog mitten hinein in den Jugoslawienkonflikt.

Paul und Amélia treten vorerst als kleine Konkurrenten auf. Beide buhlen um die Gunst ihrer Professorin Albers, die an der Uni Kultstatus zu haben scheint. Ihre Vorlesungen sind anfänglich gut besucht. Doch durch Albers Themen und philosophische Fragestellungen, die sich auf die Entwicklung des Städtebaus in Bezug auf Krieg und gesellschaftliche Ängste beziehen, bleiben immer mehr Studenten aus. Paul und Amélia sind gefesselt und saugen die Betrachtungen auf. Da Paul die Nächte in Amélias Hotel verbringt, kommen sich die beiden immer näher. Aus dem ersten gemeinsamen Essen an der Rezeption wird mehr. Aber vieles von Amélia bleibt für Paul ein Geheimnis. Ihn verstört ihr Kommen und Gehen, aber dann reizen ihn sehr ihr scharfer Verstand und ihre sinnliche Körpernähe. Die Nächte gehören Ihnen. Doch auch die Geschichte ihrer Eltern wiederholt sich in ihrer Beziehung. Die Liebe scheint Amélia nicht zu reichen und plötzlich ist sie, wie ihre Mutter, verschwunden. Allein hadert Paul und ist unglücklich. Paul hat seine Angst umgeformt und Kapital daraus gemacht. Er wird reich durch Schutz- und Überwachungstechnologien. Jahre später, als sie sich wiedersehen, ist alles verändert. Paul erfährt, dass Amélia auf den Spuren ihrer Mutter war. Ist eine glückliche Beziehung überhaupt noch denkbar? Sie haben eine gemeinsame Tochter, für die Paul der Vater sein möchte, den er sich immer gewünscht hatte. Hat Amélia das Trauma des verlassenen Kindes überwunden und kann selbst eine gute Mutter sein? Was bedeutet Schutz? Wie kann man in der Welt Schutz versprechen und geben?

Das Buch ist anspruchsvoll und mit sehr viel Feingefühl geschrieben. Ein Werk, das sich dem Leser erst etwas später gänzlich erschließt, aber schon gleich zu Beginn durch die Sprache und die Fragestellungen begeistert. Eine Liebesgeschichte in einer Zeit, in der Terror, Angst und der Wunsch nach Geborgenheit die Kunst und das Miteinander bewusst sowie unbewusst mitgestalten. Der Roman beginnt in den Nächten eines Hotels in Paris, spannt dann den Bogen und versucht, die Welt literarisch begreiflicher zu machen.

Jakuta Alikavazovic wurde in Paris geboren, ihre Eltern kamen in 1970er Jahren aus Bosnien und Montenegro nach Frankreich. Übersetzt wurde der Roman aus dem Französischen von Sabine Mehnert.

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