Ulrike Almut Sandig: „Monster wie wir“

Monster wie wir Ulrike Almut Sandig Schöffling

Ein unglaublich starkes Debüt, das sprachlich und durch den Inhalt überzeugt. Können wir die Monster in uns bekämpfen? Ist Gewalt eine Lösung und was kann vor dieser retten? Was wird aus Menschen, die als Kinder stets mit Gewalt konfrontiert waren? Wem kann man Vertrauen schenken und wie kann man sich gegenseitig heilen?

Das Buch ist in vier Abschnitte eingeteilt. Die beiden mittleren sind die Hauptkapitel, die jeweils die Geschichte von Ruth beziehungsweise von Viktor erzählen. Gleich im Prolog spricht Ruth aber auch jenen Voitto an, der erst im letzten Kapitel gänzlich auftaucht. Vorher ist er eine aufdämmernde Figur, der Ruth alles berichtet und die sie öfters im Text direkt anspricht.

Die Handlung beginnt in der ostdeutschen Provinz. Eine Umgebung, die durch den Kohleabbau geprägt ist und verschlungen wird. Ruth und ihr Bruder Fly wachsen im dörflichen Pfarrhaus auf. Ruth ist noch zu klein, um vieles, was um sie und mit ihr passiert, zu erfassen. Die Stimmung übernimmt sie dennoch sofort. Der Streit der Eltern wird immer spürbarer, bis die Mutter mit ihr später auch kurzweilig ihren Mann, den Pfarrer, verlässt. Ruth findet für sich die Musik als Fluchtmittel. Sie lernt schnell die Geige und das Klavier zu spielen. Die um sie herrschende Bereitwilligkeit zur Gewalt und den immer wieder auftauchenden Missbrauch erklärt sich Ruth mit Vampirgeschichten. In Folge wird es immer die Musik bleiben, die sie in Einklang bringt. Eine Art des Schutzgefühls findet sie stets bei ihrem Freund Viktor. Bei ihm wird sie sich auch trotz seiner Entwicklung sicher fühlen.

Viktor erlebt zu Hause ebenfalls Gewalt und Missbrauch. Später findet er die Möglichkeit, seine Empfindungen auszublenden. Was Gewalt bedeutet weiß er und er will nun selbst abschrecken. Er trainiert, um stark zu wirken, rasiert sich den Kopf und trägt Springerstiefel mit weißen Schürbändern. Für Viktor ist es überall besser als zu Hause. Somit stellt nur sein Erscheinungsbild seinen Weggang als Au-pair nach Frankreich in Frage. Er schummelt auch bei den Bewerbungsunterlagen und fängt bei einer wohlhabenden Familie an. Doch nimmt er sein inneres Monster mit und begegnet in Frankreich auch mindestens einem neuen und doch bekannten Monster in Menschengestalt.

Wohin es letztendlich Ruth oder Viktor verschlägt, ist durch Gewalt geprägt. Die Familien und das Umfeld geben den beiden keinen Schutz. Findet Ruth weiterhin Zuflucht und Schutz bei Viktor,  auch als er sich wie ein Nazi kleidet und sich auch so benimmt? Kann das Zusammenbrechen der DDR ihnen Raum zur freieren Entfaltung geben? Ihr Erwachsenwerden beginnt im Äußeren und vollzieht sich langsam im Inneren. Wer ist jener Voitto, dem Ruth ihre Geschichte erzählt? Wird er oder Viktor bei ihrem Konzert auftauchen? Können sich beide von der Gewalt in ihrem Leben befreien?

Das Buch ist ein Monster – und was für eins. Es ist aufwühlend, kraftvoll und begeistert von Anfang an. Man merkt der Sprache an, dass die Autorin eine gefeierte Dichterin und Klangkünstlerin ist. Inhaltlich gibt es viel zu entdecken und zu empfinden. Es geht nicht allein um Selbstbefreiung oder Selbstbestimmung, dafür ist dieses Monster zu komplex. Es ist ein Romandebüt, aber das siebte Buch der Autorin.

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