Dieser Roman beweist die Wichtigkeit der Literatur. Diese Kunst betritt Niemandsorte, die verloren wirken, aber doch in sich Keime der Phantasie, der Kreativität und des Erschaffens tragen. Ein Erfassen und Fixieren durch Wort oder Bild. Ein Foto nimmt auf, belichtet das Seiende. Die Literatur lässt das Gesichtete durch den Autor lebendig werden. Diese zwei Kunststränge stehen mit im Vordergrund des Romans. Sie werden sogar im folgenden Verlauf zu Rivalen. Gleich am Anfang wird einer der Protagonisten mit Tyler Durden, der Person, die nur in der Vorstellung der Hauptfigur im Film „Fight Club“ lebt, verglichen. Somit ist auch die Beziehung der beiden Hauptcharaktere in diesem Roman von vornherein fragwürdig.
Leon ist als Reisejournalist tätig. Er ist ein Getriebener, ein Mensch, der befürchtet stets etwas zu versäumen. Daher hat er für das beständige und sesshafte Leben seiner Familie wenig Verständnis. Er will vieles erreichen, können und sein. Dabei investiert er für den Weg zu seinen Zielen wenig. Er will Gitarre spielen können, übt aber niemals. Er will surfen, geht aber lediglich ab und zu boxen. Im Boxring trifft er auf Janko und es kommt zu einer ersten Konfrontation, die aber beide zusammenwachsen lässt. Denn Janko ist Fotograf und Leon bekommt von seinem Verlag den Auftrag, in Frankreich „Lost Places“ zu suchen und zu beschreiben. Janko soll mit, damit er diese sogenannten Niemandsorte mit seiner Kamera einfängt.
Leon lebte lange am Rande eines Waldes. Diesen Wald sollte er als Kind nicht betreten, denn dort hausen Wildschweine, die Leon aber noch niemals zu Gesicht bekommen hat. Sein Vater schlägt jetzt dem erwachsenen Leon vor, dass sie beide die Wohnsitze tauschen. Wird dem Vater tatsächlich das Haus zu groß oder möchte er, dass Leon endlich einen Anker im Leben setzen kann?
Die Handlung hat somit zwei Handlungsstränge. Beide sind durch die Bilder der verlorenen Ortschaften geprägt. Das innere, kulturelle und gesellschaftliche Verlassen eines Lebensraumes. Die Familiengeschichte um Leon, seine Schwester und den Vater, der im Laufe der Handlung auch gesundheitliche Probleme bekommt. Der andere Strang ist die Reise nach Frankreich, in dessen geografischem Zentrum Dünkirchen steht. Leon und Jankos verschiedene Sichtweisen werden immer deutlicher. Beide streben ihren Idealen und Idolen nach und es kommt zum Zwist.
Das Buch lebt von der Polarisierung und den exzentrischen Figuren. Die Handlung wird belebt durch die Bilder, die der Text heraufbeschwört. Der Inhalt und die Sprache sind durch leichte Melancholie und feinen Humor geprägt. Vieles findet im Roman einen Vergleich in Bezug auf Literatur, Musik, Film und Fotokunst. Diese „Lost Places“ sind Sinnbilder von etwas Verlorenem und Fallengelassenem. Aber diese Orte wecken auch den Wunsch an etwas festzuhalten, an etwas zu glauben. Das Vermissen ist komplex und bedeutet viel mehr als etwas besitzen zu wollen. «In den Hipster-Cafés dieser Welt füllen sich alte Holzregale mit gebundenen Büchern, und gleichzeitig verschwinden Buchhandlungen aus unseren Städten.« (Seite 156)
Mit diesen Roman beweist Kai Wieland erneut, dass er sich einen Platz in der wichtigen jungen Literatur erschrieben hat.
Zum Buch / Shop
Weitere Lesetipps von mir auch auf YouTube: Leseschatz-TV
Pingback: Feuilleton-Kritik – apokolokynthose