Hüseyin Yurtdas: „Der Verkrochene“

Ein Buch, das uns herausfordert und nicht zum lediglich schönen Lesen einlädt. Vielmehr provoziert der Text und man gerät mit den kleinen Reden, d.h. Kapiteln, in den Bann des Protagonisten. Am Ende ist man froh, es erlebt zu haben und man taucht immer weiter in die Gedankenspiele der Figur und in die eigenen ein. In 99 kleinen Abschnitten (manchmal ist es nur ein Satz) sprudelt das Innenleben des Erzählers auf uns ein. Er nennt sich selbst einen Idioten, einen einsamen Lügner und doch beginnt man, an die Wahrheiten zwischen den Zeilen zu glauben. Man gerät mit dem Buch selbst ins Straucheln und vergräbt sich mit dem Text in die Innenwelt eines modernen Menschen. Ist es ein Prometheus, der bereits bei Goethe gewütete hatte, ein verlorenes Ich, wie bei Gottfried Benn oder ist das Ganze eine Publikumsbeschimpfung, die sich bei Peter Handke an den Zuhörer wendet, bei Yurtdas aber fast mehr an den Erzähler selbst gerichtet ist?

Der Verkrochene ist ein junger Mann, der bereits als Jugendlicher vereinsamte und Liebe vermisst. Er hatte Beziehungen, aber diese sind wohl am kränkelnden Egoismus gescheitert. Er spielt mit seinem Umfeld und besonders mit uns, den Lesern und Zuhörern seiner Texte. Man beginnt zu glauben, ihn zu kennen, seine Eigenarten erkannt zu haben. Doch sagte er selbst, er wäre ein Lügner. Welche seiner vielen Visionen seines Selbst ist wahr? Wer ist er? Wir glauben ihm, dass er sich selbst nicht erträgt. Er ist weinerlich, pessimistisch, düster und wohl ein defekter Mensch. Doch dann zieht er seinen Lügen über sich selbst die Decke weg. Mit seinem anfänglichen Gejammer und Gemecker nervte er, dann schlägt er um und perlt sich anders aus seinen Texten heraus.  Er wendet sich direkt an uns, wie auf der Brechtschen Bühne.

Er sehnt sich nach der Gesellschaft, nach Anerkennung und Liebe. Seine Selbstäußerungen sind verstörend. Seine Bilder zeigen ein verletztes und verwundetes Ego. Dabei redet er gegen sich und andere tabulos. Ist er der moderne Mensch, der hier zu uns spricht? Seine Inszenierungen sollen uns täuschen und sind imaginäre Machtspiele. Die persönliche und geistige Entwicklung steht im Schatten der Anerkennung aus dem Umfeld. Das sich Hineinsteigern aus Angst, Verlorenheit und Einsamkeit in Bilder, die man von sich selbst entwirft, um Gehör zu finden, ist allzu oft Blendwerk. Die Ablenkung vom Selbst als Taktik des Verkrochenen.

„Der Verkrochene“ zählt zu einer ehrlichen Undergrounderscheinung der türkischen Literaturszene der letzten Jahre und liegt nun in der deutschen Übersetzung von Barbara Yurtdas vor.

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Weitere Lesetipps von mir auch auf YouTube: Leseschatz-TV

Ein Kommentar

Eingeordnet unter Erlesenes

Eine Antwort zu “Hüseyin Yurtdas: „Der Verkrochene“

  1. Hallo,

    die Rezension klingt so, als sei es ein Buch, für das man sich wappnen muss, dass beim Lesen unbequem und sperrig ist – und sich dann aber lohnt. Damit kommt es jetzt direkt mal auf die Merkliste.

    LG,
    Mikka

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