Literatur-Quickie am Beispiel von „Dorval, Quebec“ von Frank Schliedermann.

Erzählungen to go. Diese Literatur-Quickies gehören in den Reigen der Leseschätze. Es sind besondere Texte in einem besonderen Verlag, der durch seine Erscheinungsform Literatur für den Alltag anbietet. Bücher, die Wartezeiten überbrücken, den Wein (ersatzweise: Bier, Whisky oder Kaffee) abrunden oder einfach pur gelesen werden können.

Es gibt diese kleinen Bücher schon seit Ewigkeiten für kleine Menschen, die sogenannten Pixi-Bücher. Nun gibt es diese auch für größer wirkende Leute. Es gibt unter anderem Literatur-Quickies von Friedrich Ani, Jan Drees, Ute Cohen, Maike Wetzel, Mirko Bonné oder Juli Zeh – diese Liste lässt sich natürlich noch beliebig verlängern. In den neuen Ausgaben ist auch Rainer Moritz vertreten und erzählt von einem Mann, der wie Martin Walser wohnen wollte, aber sich nie zu leben wagte. Alban Nikolai Herbst beschreibt in „Gläserne Zeit“ jene literarischen Türen, die uns stets in neue Welten hereinlassen – aber auch wieder heraus?

Ein neuer Literatur-Quickie liegt als Manuskript schon lange im Leseschatz. Frank Schliedermann beschreibt eine real überspitzte Situation in einem Pflegeheim. Dieser Text ist auch in einer wunderschönen, ins Englische übersetzten Ausgabe verfügbar. Frank Schliedermann hat bereits den Hamburger Literaturpreis erhalten und schreibt sehr lebendig und tiefgründig. Die Kurzgeschichte „Dorval, Quebec“ basiert auf einer wahren Geschichte, die sich 2020 in einem Pflegeheim in einer Kleinstadt nahe Montreal ereignet hatte. Sein treffsicherer Blick lenkt unsere Aufmerksamkeit auf diverse Missstände hin.

Der Alltag in einer Pflegeeinrichtung wird meist gewinnmaximierend durch die Betreiber organisiert. Dabei wird die Menschlichkeit oft reduziert. In guten Zeiten war genügend Personal da, um die Bewohner zu begleiten und ihnen stets behilflich zu sein. Dies ist jetzt oft nur noch als eine „Satt- und Sauber-Maschinerie“ wahrnehmbar. Was passiert in einer Einrichtung während der Pandemie? Was ist mit der Vereinsamung? Dies beschreibt Schliedermann sehr nahbar anhand weniger Charaktere und Situationen. Eine Praktikantin, die als die Neue mehr zu tun bekommt, als sie dürfte oder könnte. Alte Menschen, die auf Menschlichkeit hoffen und doch mehr in ihrer Vergangenheit oder Phantasie leben. Pflegekräfte, die an das Ende ihrer Kräfte geführt werden, weil durch Quarantäne immer weniger Kollegen erscheinen. Die Heimleitung versucht via Stream die Situation zu erklären und verhängt neue Maßnahmen. Am Ende wird nahezu das gesamte Personal aus Angst vor einer Ansteckung nicht mehr erscheinen und die Bewohner werden tagelang auf sich selbst gestellt sein.

Die Charaktere werden durch kleinste Kunstgriffe sehr lebendig und erhalten durch wenige Bilder große Geschichten. Der Mann, der von seinem Vater lernt, dass das Radio oft klüger ist, als man selbst, wird dann auf vielen Ebenen ein Opfer. Andere Bewohner kommen zu Wort, die sich demenzkrank in den Räumlichkeiten zurechtfinden müssen, solange sie sich noch frei bewegen dürfen. Der Alltag in einem Pflegheim wird sehr authentisch nachempfunden. Eine beklemmende und unter die Haut gehende Geschichte, die aber auch nicht an Humor spart.

Ein Quickie mit Nachhall.

Siehe auch Leseschatz-TV vom 01.11.2021: Literatur-Quickies

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