Josefine Rieks: „Der Naturbursche“

Ein Roman über den Selbstfindungstrip eines gestrauchelten Literaten. Ein Autor, der in sich den Stoff für einen neuen Roman sucht und sich dabei in seinen Verlusten suhlt und den Naturbuschen findet. Es geht um die Aufgabe der Literatur, die Wirkung der Kunst und kreist dabei um die Popliteratur, die damals jung und neu war und doch zuweilen in der gekränkten Egoschau diverser angesagter Vertreter mündete. Die Handlung spielt 2001 und Andreas Martin von Hohenstein ist ein Popliterat der 90er Jahre. Er wird von einer Schreibblockade geplagt und zieht von Berlin in das Haus seiner verstorbenen Eltern ins Ostwestfälische. Dort hofft er, Ruhe zum Schreiben zu finden und in der ländlichen Idylle überhaupt Ideen für einen Roman zu bekommen.

Seine Wahrnehmungen kreisen beständig um sein Selbst. Besonders sein Trennungsschmerz beschäftigt ihn. Er hat seine Frau zu Studentenzeiten kennengelernt und beide haben früh geheiratet. Sie bewegten sich in Studentenkreisen, die auf Markenklamotten achteten, aber das Oberflächliche tadelten. Diese Ironie wurde hoch gehalten als Waffe oder als Mittel zur äußerlichen Abgrenzung. Diesen Zynismus möchte Andreas ablegen. Er gibt das Koksen auf, zieht sich in die Einsamkeit zurück und reflektiert das Erlebte. Ihm ist das Populäre abhandengekommen. Dies wird ihm bewusst, als er sich gerade in Kiel befindet und in launiger Gesellschaft in einer Gaststätte in Laboe gefragt wird, wo er gewesen sei, als die Anschläge vom 11. September passierten. Gerade diese Anschläge, die die bisherige Weltsicht zum Beben brachten, hat Andreas gar nicht mitbekommen. In der Konsequenz zieht er sich nun zurück und sucht ein Schreibrefugium. In der alten und nun neuen Heimat findet er eine homoerotisch aufgeladene Freundschaft zu einem charismatischen und spirituellen Mann. Der naturromantische Selbstfindungstrip ist der Stoff für diesen letzten Roman, den Andreas zwanzig Jahre später zu Papier bringt. Denn es ist ein Roman im Roman. Es ist das Alterswerk von Andreas, das wir lesen. Er blickt auf seine damalige Periode zurück. Als er noch Autor war beziehungsweise versucht, einer zu bleiben. Dabei wandern seine Betrachtungen auch zeitlich etwas weiter zurück und offenbaren seine verletzte Künstlerseele. Seine Berufung als Autor wurde von seiner Familie und seinem Umfeld oft in Frage gestellt. Dies und die Trennung von seiner Frau haben stets sein Ego angekratzt. Durch die narzisstische Weltsicht ist der Text oft sehr humorvoll.

In diesem Roman ist viel zu entdecken. Ein Gedankengeflecht, das um die alternde Popliteratur kreist, die sich selbst zuweilen dementiert. Dabei ist der Roman stets klug und witzig geschrieben. Niemals sind es Gedankengänge, die sich in verzweifelten Pointen verlaufen. Popliteraur, die ihren Höhepunkt zu Zeiten der Harald Schmidt Show hatte, die sich aber auch Sendeplätze mit Big Brother & Co teilen musste. Eine Demaskierung der maskierten Charaktere in der Kunstwelt. Eine witzige und lohnenswerte Lektüre, die eine junge Antwort auf die Werke von zum Beispiel Benjamin von Stuckrad-Barre, Christian Kracht oder Bret Easton Ellis ist. Hier wird die Demontage gefeiert, das Ablegen von narzisstischer Männlich- und Spießigkeit. Dabei wird der gegenwärtige Literaturbetrieb betrachtet und durchleuchtet. Ein Buch, das unglaublich viel Spaß macht zu lesen. 

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