Stephan Thome: „Gegenspiel“

Thome - Gegenspiel

Das Buch „Gegenspiel“ von Stephan Thome ist die Vertiefung bzw. die Gegendarstellung der Geschichte, die man bereits in seinem vorherigen Werk „Fliehkräfte“ lesen konnte.

Thome - Fliehkräfte„Fliehkräfte“ ist der Roman über einen Mann, der in den Sog seiner Fliehkräfte gerät und seine inneren Ziele und Wünsche auf seiner Pilgerreise, seinem persönlichen Jakobsweg finden muß.
Der Protagonist, Hartmut Hainbach ist in Bonn Professor für Philosophie und hat eigentlich alles erreicht. Er hat seine Traumfrau geheiratet, die er immer noch über alles liebt.
Dennoch ist Hartmut nicht glücklich. Seine Frau ist nach Berlin gezogen, um für ein kleines Theater zu arbeiten. Die gemeinsame Tochter distanziert sich ebenfalls von ihren Eltern und studiert in Hamburg. Durch die Wochenendbeziehung mit seiner Frau und die unausgesprochenen Verletzungen leben alle in der Familie aneinander vorbei und ziehen sich immer mehr in die eigene Melancholie zurück.

Hartmut vergeht auch alle Lust an seiner Arbeit und als ihm ein überraschendes Angebot eines befreundeten Verlegers aus Berlin gemacht wird, will Hartmut endlich Klarheit. Denn eigentlich meint er, hätte er doch mit Ende fünfzig alle Entscheidungen, die einen Lebensweg betreffen, bereits getroffen. Er ist innerlich getrieben und macht sich auf eine Reise nach Frankreich und Portugal, die eine Reise zu seinem Inneren wird. Er ist sich unsicher über die Verhältnisse zu seiner Tochter, zu seiner Ehe und über ihr gemeinsames Leben. Wäre es seiner Frau denn Recht, würde er mit ihr gemeinsam neubeginnen oder ist es ihr Wunsch, sich für sich alleine neu zu finden?

Gerade diese Frage wird nun in dem Roman „Gegenspiel“ verdeutlicht, denn jetzt wird die Geschichte neu und doch viel tiefgängiger aus der Sicht von Maria, Hartmuts Frau, erzählt.

Mitte der Siebzigerjahre möchte Maria als junge Frau weg aus ihrer Heimat Portugal. Denn das Land bietet ihr wenig Perspektiven und es gab dort einige Unruhen, die neben der Revolution des Landes zu einer tiefen, erst gegen Ende des Buches erzählten, seelischen Verletzung Marias führten.
Sie ist eine Frau, die viel vom Leben erwartet. Sie will als junge Frau kein biederes Familienleben und geht daher nach Berlin, um dort zu studieren. Sie hat eine Beziehung mit einem rebellischen Theatermacher, die zwar bald scheitert, aber sie in der bewegten, kreativen und auch gewaltbereiten Künstler- und Hausbesetzerszene Westberlins erwachsen werden lässt.

Später lernt sie den Philosophiestudenten Hartmut kennen und zieht als dessen Ehefrau in die nordrhein-westfälische Provinz. Als Mutter ihrer gemeinsamen Tochter wird sie zur Hausfrau in einem spießigen Umfeld und arrangiert sich mit der Karriere ihres Mannes als Philosophie-Professor. Sie durchlebt eine depressive Phase, in der sie die Bestätigung nur noch außerhalb ihrer Ehe sucht und alle in ihrem Umfeld und besonders sich selbst damit verletzt. Als später Philippa, ihre Tochter, erwachsen wird und nach Hamburg zieht, um dort zu studieren, trifft Maria eine Entscheidung und schließt sich erneut der Theatergruppe in Berlin an…

Beide Romane, „Fliehkräfte“ und „Gegenspiel“ stehen für sich und können apart voneinander gelesen werden.

Mir hat es aber nun in Folge sehr gefallen, die mir bekannte Geschichte neu zu erleben bzw. zu lesen.
Ein Roman über die Lebenslügen innerhalb einer Lebensgemeinschaft und der Familie. Eine berührende Geschichte über den Drang nach Freiheit, eigenem Ausdruck und Verwirklichung. Ein teilweise verstörendes Bild über die Täuschungen und Selbsttäuschungen und über Verantwortung gegenüber anderen und gegenüber der eigenen Biographie und dem eigenen Leben.

„Gemeinsame Lebenslügen sind komplizierte Gebilde, aber das zugrundeliegende Prinzip ist simpel: Einer will nicht hören, was der andere sich nicht zu sagen traut.“

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6 Kommentare

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6 Antworten zu “Stephan Thome: „Gegenspiel“

  1. Danke für die aufrecht erhaltene Vorfreude auf diesen Roman. Beim „Grenzgang“ war ich damals nicht in richtiger Stimmung, auch wenn ich ihn schon aussergewöhnlich gut geschrieben fand. Mit „Fliehkräfte“ hatte Stephan Thome meinen Nerv vollends getroffen. Stephan Thome ist für mich einer der begnadeten Romanciers unserer Zeit. Einer von denen, die ich jederzeit mit Freude auf angestimmtes literaturpessimistisches Lamento heranziehe.

  2. Ich danke dir für diese spannende Besprechung, die mich sehr neugierig macht – ich habe bereits „Fliehkräfte“ gerne gelesen und finde die Idee, die Geschichte nun noch einmal aus einer anderen Perspektive zu erzählen, sehr interessant.

  3. Die Fliehkräfte waren sprachlich wieder mal eine Offenbarung, auf jeder Seite hätte ich einen Satz umkringeln mögen. Und habe es dann doch nicht getan, um schnell weiterzulesen. Ich glaube, ich fange noch mal von vorn an. Für das Gegenspiel bin ich noch nicht bereit.

    • Moin!
      Danke für die Bestätigung! Ich bin ein „Fan“ von Stephan Thome… Bitte aber auch unbedingt irgendwann „Gegenspiel“ (es gibt dort auch viel zum umkringeln 😉 ) lesen. Herzliche Grüße, Hauke Harder

  4. Kati Reusche

    Ich bin dir so dankbar, dass du mich zum Weiterlesen angespornt hast. Was für ein tolles Buch! Die Figuren, die Themen, das Zwischenspiel der beiden Bücher, die Sprache und v.a. die Idee sind wirklich sehr gut gelungen. Ich will jetzt fast nochmal bei Gegenspiel anfangen – auch um mich nicht von den Charakteren zu trennen, die ich nun so gut kenne.

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