Peter Stamm: „Weit über das Land“

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Ein Mann der einfach geht. Wie bei Max Frisch verschwindet jemand einfach aus dem alltäglichen Familienleben. Der Auslöser zeigt sich metaphorisch gleich zu Beginn des Werkes. Es sind die Büsche, die tagsüber im Licht in einem lebendigen Grün stehen. Wenn aber das zentrale Gestirn verschwindet und die Schatten länger werden und die Farben verklingen und alles trist und grau wird, nehmen die Büsche Formen von Mauern, von Verliesen an, die den Protagonisten einschnüren, und als unüberwindbar erscheinen.

Die tragenden Rollen in diesem Roman sind Thomas und Astrid. Sie und ihre Kinder sind gerade aus dem Sommerurlaub aus Frankreich heimgekommen. Die Koffer und Taschen sind noch nicht ausgepackt und die Kinder quengeln. Nach dem Abendessen sitzen Astrid und Thomas im Garten und haben sich jeder ein Glas Wein eingeschenkt. Als der Sohn immer unruhiger wird, trinkt Astrid ihren Wein aus und bringt die Kinder zu Bett. Danach beginnt sie die Taschen auszupacken. Thomas schaut in den Garten und lauscht den Geräuschen der Natur, stellt sein volles Weinglas ab und geht in den Wald. Astrid merkt erst am folgenden Tag, dass ihr Mann nicht neben ihr geschlafen hat. Thomas geht, in sich erstaunt lächelnd immer weiter… Er stellt sich vor, wie Astrid reagiert. Wie sein ungetrunkener Wein noch auf dem Gartentisch steht. Astrid stolpert in ihre Routine, als wäre nichts passiert. Den Kindern erzählt sie, Thomas sei schon früh zur Arbeit gefahren. Sie fragt bei der Sekretärin nach, ob Thomas denn eventuell wirklich schon im Büro sei. Später wiederum erzählt Astrid dieser, Thomas sei krank, als diese nachfragt, warum er nicht zur Arbeit gekommen ist. So verstrickt sich Astrid in ihre Geschichte und speist alle ab, die dann auch immer weniger nachfragen. Selbst die Kinder werden immer gleichgültiger. Astrid fragt sich, wohin er gegangen sein könnte, wann und ob er wiederkommt? Kannte sie Thomas überhaupt und lebt er noch?

Thomas wandert auf niederste Bedürfnisse reduziert. Seine Einsamkeit in der Natur scheint ihm aber gutzutun. Seine Wanderung durch die Bergwelt und die Dörfer steht der Einsamkeit der verlassenen Hausfrau gegenüber. Die Handlung und der Erzählstrang pendeln zwischen den beiden. Spannend sind diese Gedanken und Gefühlswelten der beiden Protagonisten. Ihre Vorstellung des Verbleibs des anderen und dessen dadurch ausgelöste Stimmung. Die Handlung bietet Wandlungen und bleibt stets fesselnd und faszinierend.

Ein großes Thema ist die Sprachlosigkeit und die Frage nach Verbundenheit. Was bedeute Bindung? Als Leser bleibt man stets außen vor, ist stiller Betrachter dieses Ausbruches einer existentiellen Krise. Die ländliche Idylle als lichtvolles Bild in Resonanz mit dem verleumdeten Alleingelassensein. Die Sprache deutet ebenfalls diese Distanz an. Sie ist kühl, knapp und klar strukturiert. Doch bleibt immer eine kleine Leere und etwas Unheimliches. Es sind die Gefühlsströmungen der Protagonisten, die fesseln. Der Ehemann, der einfach verschwindet und sich seiner Verantwortung entzieht und ausbricht aus seiner empfundenen Enge. Aber was treibt ihn an, was bewegt sie und was bindet beide? Der Roman stellt die puristischen Fragen nach den Lebensträumen, nach Verlusten und dem eigenen Leben.

Zum Buch

3 Kommentare

Eingeordnet unter Erlesenes

3 Antworten zu “Peter Stamm: „Weit über das Land“

  1. Habe erst gestern eine sehr interessante Besprechung zu diesem Buch gelesen – das klingt, als wäre es bald meines…

  2. Pingback: Die Literatur-Beilage der ZEIT zur Leipziger Buchmesse 2016

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