„Wenn du gesehen hättest was ich gesehen habe“
Das vorliegende Werk macht deutlich, warum Literatur so wichtig ist. Literatur und Bücher sind wichtig, damit wir die Chance bekommen, den Umfang unserer Geschichte und der Geschehnisse auf der ganzen Welt etwas besser zu verstehen. Durch die Literatur können wir anhand einzelner Figuren bruchstückhaft an Geschichtsereignissen teilhaben und hoffentlich daraus lernen. Durch den emotionalen Bezug zu den literarischen Figuren oder tatsächlichen Einzelschicksalen verankert sich in uns Lesern ein Bezug zu Welten und Geschichten, die in solch einem Umfang sonst nicht möglich wäre.
Natascha Wodin hat ihre Suche nach der Geschichte ihrer Mutter literarisch festgehalten. Durch ihre Familienforschung werden wir Zeuge vom Leben einer Frau, die den stalinistischen Terror und deutsche Zwangsarbeit im Dritten Reich erlebt hat. Sie überlebt die dunklen Zeiten, aber zerbricht später daran. Diese literarische Romanbiographie gibt den Menschen, die aus der Ukraine nach Deutschland deportiert wurden, eine Stimme und ist für den Preis der Leipziger Buchmesse nominiert.
Natascha Wodin wurde 1945 als Kind sowjetischer Zwangsarbeiter in Fürth geboren. Sie wuchs in einem Lager für „Displaced Persons“ auf. Sie ist die Tochter einer Ukrainerin aus der Hafenstadt Mariupol, die mit ihrem Mann 1943 als Zwangsarbeiterin nach Deutschland verschleppt wurde. 1956 als Natascha gerade zehn Jahre alt war nahm sich ihre Mutter das Leben. Nie hat die Mutter ihr erzählt, was sie erlebt hatte. Natascha Wodin lebt heute als Schriftstellerin in Berlin und Mecklenburg. Ihre Suche beginnt, als sie spielerisch den Namen ihrer Mutter in die russische Suchmaschine eingibt. Sie wird auf der Seite „Azov´s Greeks“ fündig. Denn die Stadt Mariupol war lange ein Zentrum griechischer Kultur und bis Ende des 19. Jahrhunderts war die Mehrheit der Stadtbevölkerung griechischer Herkunft. Bisher hatte Natascha Wodin spärliche Erinnerungen an ihre Eltern. Lediglich einige Fotos und eine Ikone waren in ihrem Besitz. Nun, durch diesen zufälligen Fund, kann sie eine Spur zur Geschichte ihrer Mutter aufnehmen.
Sie stammt aus einer Familie, die anscheinend Großgrundbesitzer und baltische Adlige waren. Es wird eine mühsame Suche, denn die Familie durchlebt die Nöte der Ukraine: Hunger, stalinistischen Terror, Krieg und Vernichtung. Sie werden enteignet und spiegeln das Ende einer ganzen Epoche. In der Familie waren Landwirte, Gebildete und Opernsänger. Durch die Revolution und den anschließenden Bürgerkrieg beginnt die Zerstreuung der Familie. Das ganze Land zerbrach, weil den Besitzenden alles genommen wurde ohne weitere politische Ideen. Nataschas Mutter wird während des Zweiten Weltkriegs nach Deutschland in ein Zwangsarbeitslager deportiert und in der Rüstungsindustrie eingesetzt. Es gab während des Dritten Reichs eine massenhafte Deportation an Ukrainern nach Deutschland, eingeleitet von der Propaganda der Besetzer. Schritt für Schritt wurden Männer und Frauen aufgerufen, sich zum Arbeitseinsatz in Deutschland zu melden. 1942 wurde für alle Jugendlichen aus der Ukraine ein Pflichtdienst eingeführt. Bis zu zehntausend Zwangsarbeiter wurden Tag für Tag nach Deutschland transportiert. Durch das Auftauchen eines Tagebuchs wird im Roman parallel zur Geschichte der Mutter auch das Leben einer Schwester im sowjetischen Gulag geschildert.
Es ist ungewiss, wie viele Menschen während des Zweiten Weltkrieges zur Zwangsarbeit gezwungen und verschleppt wurden. Es waren Zwangsarbeiter und Kriegsgefangene, die wie Sklaven eingesetzt wurden. Sie mussten unter meist unmenschlichen, KZ-ähnlichen Bedingungen leben. Durch die Recherche stößt Natascha Wodin auf weitere Ungeheuerlichkeiten. Nach einer Studie des Holocaust Memorial Museums belief sich die Anzahl der Nazi-Lager auf 42.500. 30.000 davon waren Zwangsarbeitslager. Also waren diese Lager fast flächendeckend im Reich verteilt. Dies sind unfassbar große Zahlen, die es für die menschliche Vorstellungskraft umso wichtiger machen, dass einzelne Stimmen hervorgehoben und erhört werden. Diese persönlichen Schicksale wecken unserer Empathie und lassen den ganzen Umfang der Gräueltaten aus der Vergangenheit lebendig werden.
Es ist eine Biographie verpackt in einen literarischen Roman. Die Sprache ist reduziert, aber stets sehr kunstvoll eingesetzt. Die Handlung ist in den einzelnen Passagen gekonnt komponiert. Der Roman liest sich spannend und ist ein wichtiges Buch über eine bisher eher unbekannte Episode unserer dunklen Geschichte. Ein beklemmendes und intensives Leseerlebnis, das durch die eingesetzten Fotos an Tiefe und Persönlichkeit gewinnt. Natascha Wodin ist nominiert für den Preis der Leipziger Buchmesse und hat für das unveröffentlichte Manuskript zu „Sie kam aus Mariupol“ bereits den Alfred-Döblin-Preis verliehen bekommen.
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