hic sunt dracones
Gibt es Regionen, die noch nicht erforscht sind? Ist alles schon erfasst und wurde bereits alles schon einmal gesagt, d.h. wurde es bereits erzählt?
Die Gebiete und Länder, die noch unentdeckt waren, schufen die Grundlage diverser Spekulationen und hatten die Phantasie der Menschen angeregt. Auf den Karten waren es weiße Flecken und man bildete sich ein, dort lauerten die Dämonen, Wesen aus anderen Dimensionen. So entstand in der Kartographie die lateinische Textphrase „Hier sind Drachen“. Diese Drachen sind heute wohl nicht mehr kontinental auszumachen. Die Fabelwesen, die Ängste schürten und uns bedrohten, wurden durch uns selbst abgelöst. Der Roman, der Tendenzen einer Kurzgeschichte hat, spielt mit der Logik, der Sprache und dem Bewusstsein. Im Kern steht die Grundsatzfrage, ob es den Zufall gibt. Gibt es ein Schicksal, das uns herausfordert? Wie ist eine Art der Vorherbestimmung mit dem Terrorismus vereinbar? Wird unser Leben durch das Schicksal, Bestimmung oder durch das Chaos regiert? Es wirkt oft wie ein Zufall, dass man gerade dann auf bestimmte Menschen trifft, wenn man sie benötigt. Kennen wir die Menschen, die wir lieben, wirklich?
Wir lernen die Journalistin Caren kennen, die für ihre Arbeit lebt. In der Vergangenheit ist sie den Anschlägen in Boston und New York durch glückliche Fügungen entkommen. Am Morgen nach den Pariser Anschlägen will sie von Heathrow nach Paris fliegen. Sie soll über den Terror schreiben und über die Stimmung vor Ort. Sie ist immer auf der Suche nach der perfekten, noch nie erzählten Geschichte.
Der Flugplatz bildet die metaphorische Kulisse der Handlung, die sich wie ein dramatisches Kammerspiel entwickelt. Der Flug verzögert sich und Caren sitzt mit den anderen Wartenden am Terminal. So lernen wir Caren an einem Ort kennen, der ein Hafen zur ganzen Welt sein kann, aber durch die Verzögerung hier zwischenhängt. Sie ist nie wirklich am rechten Ort, auch ihre Beziehung ist zweckgebunden. Sie lebt in einer Dreierbeziehung. Der Mann, mit dem sie lebt, liebt noch eine andere Frau, kann es aber nicht ertragen, wenn sie fremdgeht. Die beiden Frauen wissen voneinander und kennen sich. Caren lebt immer dazwischen und liebt einen weiteren Mann, den Fotografen, den sie auf ihren Reportagen trifft. Es breitet sich eine Unruhe aus, da das Bodenpersonal die Fluggäste besänftigt, aber im Ungewissen lässt. Dann wird auch noch das Terminal abgesperrt. Es gab eine Terrorwarnung und der Flugplatz versinkt im Chaos. Lediglich Caren, die als Journalistin ihre Kontakte hat, bekommt nähere Informationen von einem Einsatzleiter. Caren sitzt ein Mann gegenüber, den die Unruhe um ihn herum nichts anzuhaben scheint. Er ist ein Erkenntnistheoretiker und liest Wittgensteins „Tractatus logico-philosophicus“. Caren nennt ihn deshalb Wittgenstein. Sie gibt den Menschen aus ihrem Umfeld gerne eigene Namen, die sie diesen gegenüber aber nicht ausspricht. Beide kommen ins Gespräch und geraten immer mehr ins Philosophieren. Die Grenze des Denkens geht einher mit dem seelischen Empfinden von Caren, deren räumliche Wahrnehmung sich kurzweilig begrenzt. Ab und zu überkommt sie ein Gefühl der Beengung, als würde ihr die Decke entgegenstürzen. Das Gespräch mit Wittgenstein dreht sich um das Erinnern, die Frage nach dem Lebenssinn und über die Welt und die Wirklichkeit. Hat man Einfluss auf das Leben? Warum konnte Caren zum Beispiel mehrfach dem Schicksal entkommen und ist erneut durch eine Terrorwarnung bedroht? Ist alles eine Fügung? Hinzu gesellt sich eine Handleserin, die Caren die Lebens-und Herzlinie liest. Auch wenn Ihr Leben erneut durch einen Terroranschlag bedroht ist, ist ihre Lebenslinie lang, aber zeigt kommende Veränderungen an. Welche Rolle spielen ihre Beziehungen und was haben die Männer für einen Einfluss auf das Kommende und ihr Leben?
Ein lesenswerter Roman über die Bedeutung der Geschichte, die Philosophie und die Suche nach dem Sinn. Die kurze Erzählung hat eine sprachliche und philosophische Dichte, die den Leser niemals überfordert, aber unterhaltsam herausfordert.
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