Andrew Miller: „Nachts ist das Meer nur ein Geräusch“

Nachts ist das Meer nur ein Geräusch Andrew Miller Zsolnay

Die Geschichte einer Frau, die schwer zu verstehen ist, die sich verschließt und gleich dem Roman nicht mit üblichen Charakterisierungen zu bemessen ist. Die Handlung baut sich stakkatoartig auf und beginnt dann zu kippen. Anfänglich ist die See, die immer ein begleitendes Bild im Roman ist, kabbelig, doch das Gewässer verändert sich immer mehr.

Die unnahbare Hauptfigur erscheint, d.h fällt in die Handlung. Wir als Leser und die weiteren Figuren im Roman, die mit Maud in Kontakt treten, werden von ihr an- und abgestoßen. Sie wirkt fast autistisch und ihre eingestreuten Erinnerungen lassen die erlittenen Wunden erahnen.

Die Handlung beginnt durch einen Unfall, wird durch einen weiteren gesprengt und nimmt erst später mit dem Zweiten wirkliche Fahrt auf. Der erste Unfall geschieht beim startklar machen der Boote für die nächste Saison auf dem Gelände des Segelclubs. Maud fällt vom aufgebockten Boot auf den harten Boden.  Sie fliegt an Tim vorbei und liegt wie tot auf den zerbröckelten Ziegelsteinen. Dann steht sie einfach auf und geht weiter. Diese fast schon mystische Begebenheit lässt die Beiden ein Paar werden. Beide wirken sehr unterschiedlich. Maud stammt aus einfachen Verhältnissen und ist eine begehrenswerte, aber eigenwillige Naturwissenschaftlerin. Sie arbeitet an der Entwicklung pharmazeutischer Mittel gegen Schmerz. Ihr Erscheinungsbild ist in der wissenschaftlichen Welt durch ihr Tattoo bereits auffällig und wohl für ihren Charakter wegweisend: „Sauve qui peut“  – rette sich wer kann. Tim stammt aus einer vermögenden, adligen Familie und kann über seine Zeit frei verfügen. Seine Leidenschaft gilt der Musik, besonders die klassische Gitarre beherrscht er und spielt gerne auf kostspieligen und edlen Instrumenten.

Der Roman schildert das Zusammenspiel zwischen Tim, der eigentlich Henley heißt und Maud. Er versucht in ihr Innenleben vorzudringen. Er möchte alles von ihr wissen und erfahren, doch sie bleibt stets einsilbig, verschlossen und in sich gekehrt. Sie erscheint dennoch unverfälscht, aber als eine, die ihre Umwelt nicht wirklich wahrzunehmen scheint. Auch ihre Schwangerschaft verändert sie kaum. Als Zoe, ihre Tochter, auf der Welt ist, arbeitet sie weiterhin viel und vernachlässigt etwas ihre mütterliche Fürsorge. Tim wird der Hausmann, der sorgende Vater, der nebenbei für Maud ein Konzert komponieren möchte.

Ein weiterer Unfall schleudert eine Wendung in ihr Leben. Diesmal kommt es aber zu einer familiären Tragödie. Der Unfall zerreißt die unverheiratete Familie gänzlich und Tim, der bereits eine andere Frau kennengelernt hat, distanziert sich immer mehr und Maud sucht den Ort auf, in dem sie sich stets geborgen fühlt. Sie lebt auf einem Segelboot und macht auch später die Leinen los und segelt davon. Doch auch auf dem Atlantik erwartet sie die wechselnde See mit all den treibenden Stimmungen. Ab dem Zusammentreffen mit weiteren Kindern, bekommt das Geräusch des Meeres und des Buches erneut einen anderen Ton.

Ein Roman, der uns Leser ab und zu alleine lässt. Mit unseren Gefühlen, Gedanken und Zuneigungen. Manchmal wirkt das Erzählte nichtig und unwichtig. Dadurch bilden sich kleine Flauten, die aber im Ganzen der Stimmung des Romans zuträglich sind und man als Leser in eine interessierte Strömung eintaucht. Das Buch erreicht irgendwann einen Punkt, ab dem man Maud nicht mehr loslassen möchte. Doch bleibt man als Leser gerade am Ende verdattert zurück und verweilt noch länger bei Maud. Ein Roman, der wie ein Familienroman beginnt, dann, durch das Schicksal gelenkt, das Drama einer Frau erzählt, die sich und uns der Wildnis und dem Meer aussetzt.

Andrew Miller wurde 1960 geboren und lebt heute in Somerset. 1998 erschien „Die Gabe des Schmerzes“, für den er den „Impac Dublin Literary Award“ bekam. 2013 wurde auf Deutsch der sehr lesenswerte Roman „Friedhof der Unschuldigen“ veröffentlicht. Letzterer wurde ausgezeichnet mit dem „Costa Book of the Year Award“.

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