
Gert Loschütz begeistert erneut. Mit seinem neuen Roman begibt er sich wieder auf Spurensuche und verwebt Geschichte mit Literatur. Der Auftakt des Romans ist ein Zugunglück, das sich im Dezember 1939 vor dem Bahnhof von Genthin ereignete. Es geht um die Geschehnisse, die zu dieser Katastrophe führten und Gert Loschütz erzählt drumherum Geschichten, die bis in unsere Gegenwart wirken. Sehr literarisch und bewegend entwickelt Loschütz seinen Roman, dem er ganz viel Leben einhaucht. Niemals wird er sentimental oder zu dokumentarisch. Seine große Kunst ist es, sprachlich und durch das fein gewobene Netz an Ereignissen an den Text zu fesseln und am Ende, wie bereits bei „Ein schönes Paar“, auch mit Überraschungen aufzuwarten.
In einer kalten Dezembernacht 1939 prallen zwei Züge kurz vor dem Bahnhof von Genthin aufeinander. Der eine war gänzlich überbucht und hatte somit durch das Ein- und Aussteigen an den vorherigen Haltestellen und der jeweils schweren Anfahrt eine Verspätung eingefahren. Der schnellere Zug auf demselben Gleis dahinter wird vom Bahnpersonal wahrgenommen. Er soll zum Halten gebracht werden. Doch gehalten hat der andere. Hat jemand das Signal zu früh gegeben oder wurde das Haltesignal vom entsprechenden Lokführer übersehen? Die entscheidenden Handlungen hatten eine Zeitspanne von vier Sekunden.
Der Journalist Thomas Vandersee sichtet im Nachhinein Materialien und rekonstruiert das schwere Zugunglück. Ganz genau und fast schon minutiös begibt er sich auf die Suche nach Ursachen des Unfalls und wird bei der Namensliste der Toten und Verletzten stutzig. Es sind die Namen Giuseppe Buonomo und Carla Finck, die ihm auffallen. Giuseppe Buonomo ist beim Unglück ums Leben gekommen. Carla Finck hat traumatisiert überlebt und nennt sich im Krankenhaus Carla Buonomo. Dabei ist sie mit Richard, einem Juden aus Neuss verlobt. Dieser mysteriöse Vorfall weckt das Interesse von Thomas. Was hatte Carla vor? Wem galt ihre Liebe und mit wem plante sie eine sichere Zukunft? Je weiter Thomas sich in den Vorfall einliest und sich die Ortschaften ansieht, wird auch seine persönliche Familiengeschichte lebendig. Carla hat neue Kleidung erhalten, die ihr von einem Kaufhaus, in dem Thomas Mutter zur Lehre ging, geliefert wurden. Wahrscheinlich hat sogar Lisa Carla die Sachen gebracht. Lisas Leben ist ebenfalls schicksalhaft. Sie träumte von einem Leben an der Seite eines hochtalentierten Musikers.
Gert Loschütz verknüpft Menschen und Schicksale mit realen Ereignissen und alles steht miteinander in Verbindung. Jede Wendung, Entscheidung oder alle schweren Unglücke führen zu weiteren Ereignissen, die bis in die Gegenwart nachklingen. Gert Loschütz hat erneut einen sprachlich und inhaltlich intensiven Roman vor dem Hintergrund deutscher Geschichte geschrieben. Seine Figuren werden sehr lebendig. Die Handlung und mit ihr die Charaktere haben stets etwas Suchendes. Auch literarisch tastet sich Loschütz an den Stoff heran und die anfänglichen vier Sekunden werden in Folge ein ganzer Kosmos. Die Frage „was wäre wenn“ ergibt sich stets nur aus der Rückschau. Beim Handeln ist man stets Agierender und wird zuweilen innerhalb weniger Sekunden umgelenkt. Erneut zeigt sich auch das Können des Autors am Ende. Hier rührt er erneut Herz und Geist. Ein großer und sehr lesenswerter Roman. Ein Anwärter für den Leseschatz des Jahres.
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