Salih Jamal: „Blinder Spiegel“

Was erblickt man, wenn man in einen blinden Spiegel schaut? Eine Verzerrung der Wirklichkeit. Etwas, das durch Schlieren nur wenig Raum lässt, um das ganze Bild zu erfassen. Sehen wir das Gegenüber so wie es ist oder lediglich den Abglanz, der das Ich schemenhaft reflektiert? Dies sind die alleinigen Fragen, die der Titel bereits offeriert. Im Text geht es um die Willensfreiheit und um die Frage, ob es diese überhaupt geben kann.

Der Roman liest sich wie ein französischer Chanson und birgt in sich eine traurige Ballade. So ist jedes zu Herzen gehende französische Lied meist von Melancholie und einem Drama durchdrungen. Doch erklingt es anmutig und wunderschön. Die Aufteilung in der „Blinde Spiegel“ ist gleich einem klassischen Drama und besteht aus fünf Akten, d.h. Kapiteln. Gleich am Anfang spürt man ein aufkommendes Drama. Der Erzähler ist Lui, der den Drang hat, seine Geschichte mit Elle zu Papier zu bringen. Er möchte nichts verschweigen und beginnt seinen Bericht, der wie ein schöner Liebesroman anfängt. In Folge zeigt sich, dass Lui in Haft sitzt und dem Liebespaar etwas Schreckliches passiert sein muss.

Lui ist Fluglotse mit schlechtem Orientierungssinn. Er ist ein getriebener und flüchtiger Mensch. Wenn er eines Ortes überdrüssig ist, wechselt er den Flugplatz und beginnt, sich neu zu orientieren. Nach England ist er nun in Frankreich, in Paris, gelandet. In einem Café lernt er Elle kennen. Beide verlieben sich ineinander. Sie beginnen eine Affäre, da Elle mit einem vermögenden Unternehmer und aufstrebenden Politiker verheiratet ist. Ihre Liebe beginnt zart. Doch aus der Zartheit entsteht eine Körperlichkeit, die Lui auch zuweilen abschreckt. Beide finden durch ihre seelische Verlorenheit in dem Anderen eine Geborgenheit und mieten eine Wohnung für ihre Treffen. Eine Verbundenheit, die aber wenig vom Anderen zeigt, denn Elle bleibt auch mal für längere Zeit weg. Sie besteht darauf, dass ihre Ehe unzerstörbar ist, weil sie ihrem Mann gehöre. Dies verstört Lui und er will mehr erfahren. Als er in die Villa von Elle und ihrem Ehemann, der oft auf Dienstreise ist, einbricht, zeigt sich etwas, dass sein Bild von ihr verändert.

Elle ist geprägt durch die narzisstische Liebe ihrer Mutter und kann sich von dieser kranken Liebe nicht befreien. Auch in ihrer Ehe wird sie dominiert. Lui und Elle ahnen, dass ihre gefundene, wahre Liebe kein glückliches Ende haben darf. Lui, der aus einer Zelle heraus die Vergangenheit reflektiert und bis zur Katastrophe alles ganz genau beschreibt, beendet seinen Bericht mit einer Mehrdeutigkeit. So ist auch das ganze Werk verfasst. Stets keimt eine große literarische und psychologische Tiefe in den Zeilen, die eine Vieldeutigkeit zulassen. Die Sprache ist wortgewaltig und fließt von einer klaren Schönheit zu einer tiefen Traurigkeit. Neben dem Lebenshunger taucht immer etwas Verderbliches auf. Wie in einem Vanitas blickt man stets neben dem Lebenden in etwas Vergängliches. Zum Beispiel ist es ein Zugunglück, das Lui und Elle in ihrer Liebe näher zusammenbringt. Solche Bilder zeigen, dass wir oft keine Gewalt über das Leben haben.

Salih Jamal beweist erneut sein Talent für tiefgründige Geschichten. Seine Sprache und Charakterisierungen verstehen zu begeistern. Der Hunger und der Schmerz sind stets spürbar. Ein melancholisches, schönes Werk. Ein kleiner Roman, der in sich Großes verbirgt, denn Salih Jamal hat sich erneut an großen Vorbildern wie zum Beispiel Ogawa („Hotel Iris“) oder Sartre orientiert. Am Ende des Textes stellt man sich die Frage, ob es die freie Entscheidung gibt oder ist diese eine Illusion?

Zum Buch in unserem Onlineshop

Weitere Lesetipps von mir und tolle Gäste auf YouTube: Leseschatz-TV

Hinterlasse einen Kommentar

Eingeordnet unter Erlesenes

Kommentar verfassen

Trage deine Daten unten ein oder klicke ein Icon um dich einzuloggen:

WordPress.com-Logo

Du kommentierst mit deinem WordPress.com-Konto. Abmelden /  Ändern )

Facebook-Foto

Du kommentierst mit deinem Facebook-Konto. Abmelden /  Ändern )

Verbinde mit %s