
Der neue Roman von Maria Kjos Fonn ist erneut schrecklich gut. Der Titel ist wie im vorherigen Werk einem Stil gewidmet. „Kinderwhore“ (auch im Leseschatz zu finden) nahm Bezug auf den Kleidungsstil von Courtney Love. Heroin-Chic ist ein Erscheinungsbild, das sich durch blasse Haut, dunkle Augenringe und eine abgemagerte Figur auszeichnet. Alles Merkmale, die auf den Gebrauch und Missbrauch von Drogen, besonders Heroin, hinweisen.
Erneut beschreibt die Autorin nachvollziehbar den Fall aus der Gesellschaft. Sie schaut genau hin, entwickelt dabei großartige Empathie, bleibt dabei aber stets auf Distanz. Mit dem Text gerät man in eine literarische Faszination und taucht ein in eine Geschichte, die gut erzählt und glaubwürdig ist. Maria Kjos Fonn macht das Unverständliche sichtbar und bietet Erklärungen an. Die Sprache und die Handlungssprünge berauschen und dadurch wirkt der Roman selbst wie eine Gesellschafts-Droge. Die Identifikation mit der Figur gelingt dennoch, auch wenn die Erlebnisse fern der eigenen Wahrnehmungen sind. Dies macht aber gerade den Reiz bedeutender Literatur aus.
Elise ist, wie ihr später im Text jemand sagt, auf eine reichlich wenig beeindruckende Weise beeindruckend. Sie hat ein gestörtes Selbstbild und eine kränkliches Körpergefühl. Dabei bleibt unklar, woher dies kommt. Sie ist in einem bürgerlichen Elternhaus aufgewachsen und hat eine besondere Gabe zu singen. Für ihre Mutter hat sie eine goldene Stimme und leuchtet sogar von innen. Doch gerade dieses Leuchten empfindet Elise nicht. Sie hat in sich eine Leere, die sie nicht zu füllen vermag. Sie empfindet sich oft vom Selbst losgelöst und der eigenen Realität entrückt. Sie möchte auffallend nicht auffallen. Dies Paradox ist eines der Bewegründe, sich selbst beständig zu reduzieren. Doch möchte sie auch dabei etwas wahrnehmen und fühlen, ohne Eindruck im Außen zu hinterlassen. Somit probiert sie einiges aus. Askese trifft auf Maßlosigkeit. Anfänglich ist es Bulimie. Sie möchte die Dünnste sein. Sie empfindet Glück im knochigen Erscheinungsbild. Doch wenn Knochen nicht mehr reichen, sucht sie die Betäubung. Den Rausch, der das Schwerelose verstärkt. Sie möchte spurenlos durch ihr Leben wandeln und greift zu Drogen. Da Kokain ihr auf Dauer nicht mehr reicht, steigt sie auf Heroin um. Die Drogen und das Milieu scheinen ihr das zu geben, was sie immer schon wollte. Sie wandelt zwischen zu wenig und zu viel und möchte sich im Zwischenraum verlieren.
Ein lesenswertes Werk über Abhängigkeiten, Sucht und die eigene Wahrnehmung. Alles ist schlüssig und sehr gekonnt in verschiedenen Zeitebenen erzählt. Von der Therapie, dem Entzug, zurück zum Beginn. Durch die Distanz wird der literarisch versteckte Schmerz ganz still verdeutlicht. Die Ursache der Sucht und der Drang nach dem Rausch sind leidvoll, aber fast schon durch Schönheit kaschiert. Erneut ein Werk über Menschen, besonders junge Menschen, die im Abseits der Gesellschaft stehen und in den Abgrund blicken. Dieses in wichtige und großartige Literatur zu verwandeln, ist die besondere Gabe von Maria Kjos Fonn. Aus dem Norwegischen übersetzt wurde das Werk von Gabriele Haefs.
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