
Erneut verführt Nina Bouraoui durch ihre Sprache, die Emotionen und den tiefgründigen Blick in die Psyche. Nach „Geiseln“ ist „Erfüllung“ auch ein großartiges und beunruhigendes Portrait einer Frau, die eine feministische Unruhe verkörpert. Erfüllung folgt dem Verlangen und der Sehnsucht. Dabei spielt die Liebe eine entscheidende Rolle. Doch was passiert, wenn die liebevolle Bindung toxisch, besessen und von einer enormen Melancholie verwandelt wird? Die Liebe taucht oft als eine Leere im Roman auf. Doch bleibt sie der Fixpunkt der Agierenden. Liebe, die in einem Joan Baez Song im Text Erwähnung findet, ist immer politisch. So auch dieser Roman, der durch das persönlich Erlebte die Unruhen der Welt einfängt.
Wir lesen die sieben Hefte der Michèle Akli, die diese in den Jahren 1977 bis 1978 geschrieben hat. Michèle ist Französin, die ihrem Mann Brahim 1962 nach der Unabhängigkeit nach Algier folgte. 1977 beginnen ihre Notizen und Tagebucheinträge. Sie leben in einem kleinen Haus über der Stadt und haben einen zehnjährigen Sohn, Erwan. Die Natur ist ein Rückzugsort für Michèle, denn in ihr kämpfen unterschiedliche Sehnsüchte. Das Schreiben wird für sie ein wichtiger Halt. Ihre Kommunikation mit dem Papier ist ihre Möglichkeit, sich zu sammeln und eine innere selbstauferlegte Beichte abzulegen. Denn ihre Liebe ist verblasst. Die Liebe zu dem Land und besonders zu ihrem Ehemann. Der großzügige Garten wird ihr Refugium, wenn Erwan in der Schule ist. Brahim, der in einer Papierfabrik arbeitet, ist oft unterwegs. Die erloschene Leidenschaft entfacht eine brodelnde Melancholie, die Michèle oft mit Alkohol befeuert. Ihre ganze Liebe gilt lediglich ihrem Sohn. Es ist eine nahezu egoistische Mutterliebe. Sie wird eifersüchtig auf alles, was Erwan liebgewinnen könnte. Als Erwan in der Schule Freundschaft mit Bruce schließt, gerät Michèle in ein Gefühlschaos. Bruce ist ein Mädchen, das zwischen den Geschlechtern lebt, ein Mädchen-Junge, die sich nach ihrem Idol Bruce Lee benennt. Das kämpferische Kinderspiel und das Auftauchen von Catherine, der Mutter von Bruce, bringt das Leben von Michèle in Aufruhr.
Still und gänzlich zurückgezogen schreibt Michèle über ihre Sehnsucht nach Erfüllung. Im Schreiben ist sie ehrlich und frei. Im Gegensatz zu der äußeren Welt, die sie immer mehr einengt und sogar bedrohlich ist. Kann sie in einem neuen Arbeitsumfeld berufliche und gesellschaftliche Erfüllung finden? Kann sie ihren Sohn loslassen? Die Grenzen sind nicht nur die politischen, sondern auch die selbstgesetzen, zum Beispiel das Mann- oder das Frausein.
Im Roman nimmt die Gedankenwelt von Michèle enorm viel Raum ein. Wir tauchen ein in eine weibliche Sicht auf die damalige Entwicklung, die bis heute wirkt. Neben der inneren Sicht gibt es die Beschreibungen der äußeren Erlebnisse, die inhaltlich und sprachlich eine stets wabernde und bedrohliche Gewalt mitschwingen lassen. Der Roman beinhaltet viel Emotion, die erst gezügelt, dann wie bei „Geiseln“ explosionsartig den Text vervollständigt. Aus dem Französischen wurde das Werk von Nathalie Rouanet übersetzt.
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