
Bücher zu lesen bedeutet man flieht oder erdichtet sich eine Welt. Literatur bildet, schafft somit Wissen und schult Empathie. Einfühlungsvermögen als Grundsatz der Ethik-Debatte ist zumindest in diesem Roman ein wichtiger Baustein. Denn „Die Markierung“ ist ein spannender Roman, der in einem dystopischen Szenarium viele Empathie- und Ethik-Thesen behandelt. Dies aus der Sicht unterschiedlichster Charaktere, deren Lebensverläufe nah aneinander verlaufen.
Friða Ísberg ist eine isländische Lyrikerin und Autorin, die mit einigen Preisen ausgezeichnet wurde und in viele Sprachen übersetzt wird. In der Deutschen Übersetzung gibt es neben dem vorliegenden Roman ihren Gedichtband „Lederjackenwetter“. Voller bildhafter Kreativität sprudelt die Lyrik von Friða Ísberg auf den Lesenden ein. Eine poetische Sicht auf den Lebensweg. Die Verschmelzung des Individuums mit der Gesellschaft, dem Wir, ist eines ihrer Themen. Der Egoismus als Schutzraum oder als falscher Antrieb für einen ausufernden oder krankhaften Narzissmus. Die philosophischen Gedankenspiele webt Friða Ísberg spielerisch in ihre Texte ein. Somit sind diese niemals überfordernd oder überlasten den Lesefluss. Die Forderung nach Empathie beinhaltet im Guten mehr Mitgefühl für das lebende Umfeld. Wenn dies ausgenutzt oder überdehnt wird, kann die These für ein individuelles Leben begrenzend sein. Besonders wenn lediglich das Gesetz über das deklarierte Gute oder Böse Klarheit schaffen will.
Die Handlung des Romans spielt in einer nahen Zukunft. Um die Sicherheit zu gewährleisten, wird ein Empathietest eingeführt. Dies vorerst freiwillig, aber für bestimmte Berufsgruppen erforderlich. Auch, wenn man bestimmte Wohngebiete betreten möchte. Mit anstehenden Wahlen soll dieser Test gesetzlich verankert und für die Gesellschaft verpflichtend werden. Die daraus entstehende Markierung bedeutet, dass das Testergebnis des getesteten Probanden öffentlich geführt wird. Dies geschieht, damit der Zugang zu gewissen Lebensräumen für Menschen, die den Test bestanden haben, möglich wird. Somit besteht die allgemeine Gefahr in ein gesellschaftliches Abseits zu geraten. Auch in den Schulen wird bereits der Test vorbereitet. Die junge Lehrerin Vetur beobachtet diese Entwicklung sorgenvoll. Der Schulabbrecher Tristan versucht, sein Leben in den Griff zu bekommen und gerät immer mehr unter starken Druck. Für die Geschäftsfrau Eyja wird der Test zu einer beruflichen und privaten Belastungsprobe. Lediglich für den Psychologen Ólafur ist der Test ein guter Weg zu einer besseren und gewaltfreien Gesellschaft. Anhand dieser Figuren wird die Gefahr solcher Markierungen verdeutlicht und ein friedvolles Miteinander ist ein Traum, war einer und wird wohl einer bleiben.
Ein irrer Ritt zwischen Empathie und vorgetäuschtem Mitgefühl. Ein Roman, der überzeugt und nachdenklich stimmt. Durch den Wechsel der Sichtweisen, der mit jedem Kapitel vollzogen wird, verdeutlicht sich ein Gesamtbild und die Handlung wird ungemein spannend. Lässt sich so etwas wie ein moralisch Gutes in einem Gesetz verorten? Wieviel verordnete Korrektheit verträgt ein Miteinander? Ein kluger und toll erzählter Roman von einer Autorin, die versteht Gedanken in Poesie zu verwandeln und dadurch Empathie entfacht. Aus dem Isländischen wurde der Roman von Tina Flecken übersetzt.
Zum Buch in unserem Onlineshop
Weitere Lesetipps von mir und tolle Gäste auf YouTube: Leseschatz-TV
Pingback: Friða Ísberg: „Die Markierung“ | Wortspiele: Ein literarischer Blog