Joachim Schnerf: „Das Cabaret der Erinnerungen“

Joachim Schnerf erzählt erneut über das Erinnern. Wie in seinem Roman „Wir waren eine gute Erfindung“ ist es der Moment des Wartens auf das Eintreffen der Familie, um den Erzähler innehalten und auf die Familiengeschichte blicken zu lassen.

Es ist ein poetisches Buch, das die Geschichte einer jüdischen Familie in Frankreich erzählt. Dabei verwischen sich diverse Grenzen, die der Länder, die der Zeiten und die Realität mit der Kraft der Fantasie. Wie kann ein Begreifen des unfassbaren Ausmaßes der Shoah erfolgen, gerade bei den Folgegenerationen, die es nicht erlebt haben und jetzt die Überlebenden verschwinden? Werden die kommenden Generationen noch glauben können? Dies sind die Hauptfragen, die sich der Erzähler und somit sein Autor stellt.

Ein neues Leben ist geboren. Samuel wird morgen seine Frau und seinen neugeborenen Sohn von der Entbindungsstation abholen. Das neue Leben und das Lebensglück lassen ihn sich an seine Kindheit erinnern. Er denkt an die Geschichte seiner Familie. Er möchte unbedingt, dass sein Sohn zukünftig alles weiß, damit dieser es weitertragen kann. Er reflektiert, wie er das lange Ungesagte erfahren und verarbeitet hat. Bei der Beerdigung seines Großvaters begegnet er zum ersten Mal dessen Schwester, seiner Großtante Rosa. Nach der Beisetzung waschen sie sich die Hände und er sieht ihre Tätowierungen. Sie ist eine Auschwitz-Überlebende und hat Europa verlassen. Sie lebt in Texas. Samuel ist noch jung und das Bild, das er sich von der Wüstenlandschaft von Texas macht, ist den Cowboygeschichten entsprungen. Mit diesen Wildwest-Fantasien spielt er das Familiendrama mit seiner Schwester und seinem Cousin weiter. Rosa hat lange geschwiegen, doch dann wird sie im Radio interviewt und ein Briefwechsel mit Samuel lässt ihn erst Jahre später das ganze Ausmaß erahnen.

Rosas Geschichte handelt vom Pogrom in Polen, der Flucht nach Frankreich und Deportation nach Auschwitz, als sie zwölf Jahre alt war. Der Gräuel im Lager ist ein beständiger Geruch des Todes. Der wahre Schrecken offenbart sich durch eine Freundin, die eine Rolle zwischen Geburt und Sterben einnimmt. Rosa überlebt und gründet das Cabaret der Erinnerungen. Sie gründet in Texas ein Shtetl und gibt den Verstorbenen eine Stimme. Dieses Camp im Camp regt die Fantasie von Samuel an und er will als Kind diesen Ort finden und in seiner Vorstellungskraft werden die Vogesen zur amerikanischen Wüste. Seine persönliche Entwicklung ist durch die Pfadfinder geprägt, die damals der Résistance beigetreten waren. In einem Zeltlager hat er seine Frau kennengelernt, die er nun am kommenden Morgen mit seinem Sohn abholen wird. Seine Erinnerungen erlebt er am Abend vor seiner Abfahrt und es verwischt sich hierbei die Geschichte mit seinen Fantasien, die ihm als Kind damals den Schrecken nahmen. Gibt es das Cabaret wirklich oder ist es ein reines Bild der Hoffnung, dass sich solche Schrecken niemals wiederholen mögen?

Der neue Roman ist ein erneut vom Autor entfachtes Gefühlschaos. Mit einer enormen Dichte werden die Handlungsstränge vorgetragen und in knappen Szenen erzählt. Der Roman lebt von seiner sehr poetischen Sprache und den daraus resultierenden Bildern. Ein ergreifender Text, der Zartes neben den Schrecken stellt und mit Schönheit und Humor den Horror nicht verklärt, sondern in sich auflöst, um ihn für die kommenden Generationen zu erhalten. Der Roman wurde aus dem Französischen von Nicola Denis übersetzt.

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