Éric Faye: „Zimmer frei in Nagasaki“

Faye_Zimmer frei in Nagasaki_Druck

Mal wieder so ein kleiner, feiner Roman, der etwas ganz Besonderes ist. Ein Buch, das mich an „Ich nannte ihn Krawatte“ von Milena Michiko Flasar erinnert. Eine Lektüre über das Schicksal einer heimlichen Mitbewohnerin und ihres noch ahnungslosen und unfreiwilligen Gastgebers. Es sind zwei Menschen, die unterschiedlicher nicht sein könnten und für eine Zeitspanne einen verändernden Teil im Leben des Anderen einnehmen, sich begleiten und dadurch die jeweilige Biographie umlenken. Das spannende dabei ist, dass sie sich nur einmal wirklich begegnen.

Die Geschichte spielt in Nagasaki. Dies ist die Stadt, die sich auch in der Geschichte des Landes als erstes der anderen Welt öffnete. Japan hat sich lange dem Welthandel verschlossen und erst den Niederländern erlaubt an eine künstliche Insel, die vor Nagasaki erbaut wurde, mit ihren Handelsseglern anzulegen (siehe auch im tollen Roman: „Die tausend Herbste des Jacob de Zoet“ von David Mitchell).

Die Handlung spielt in der heutigen Zeit und wir lernen Shimura Kobo, einen 56 jährigen Mann, kennen, der alleine in seinem kleinen Haus wohnt, das in einem Außenbezirk von Nagasaki steht.
Er wird stutzig, denn seit einigen Tagen hat er das Gefühl, daß ihm Lebensmittel aus dem Kühlschrank entnommen werden. Erst zweifelt er an sich: Hat er die Zutaten wirklich gekauft oder hat er sie eventuell im Geschäft liegen gelassen? Als er sich aber in seiner Wohnung immer unwohler fühlt beginnt er die Bestände zu notieren. An übersinnliche Begegnungen mag er nicht glauben. Als ihm wiedermal ein Joghurt fehlt und die Saftmenge reduziert ist kauft er sich eine Kamera, deren Bilder er online von seinem entfernten Arbeitsplatz abrufen kann. Er ist ein gewissenhafter Meteorologe der nun von einem seelischen Sturm erfasst wird, denn er wird Zeuge, wie sich eine ihm fremde Frau in seiner Küche Tee zubereitet und Reis kocht.

Der Roman, der auf eine wahren Geschichte beruht, die im Mai 2008 von mehreren japanischen Zeitungen veröffentlicht wurde, entfaltet aus unterschiedlichen Perspektiven das psychologische Portrait zweier Menschen, die sehr unterschiedlich sind und doch von der gleichen Sehnsucht verbunden sind.
Es geht um das ausgestoßen sein, das vertrieben sein, das Finden einer Heimat, das Zuhause, d.h. Geborgensein. Gleich vielen Lebewesen, die zu ihrem Ursprung zurückkehren, zum Ort ihrer Geburt, um dort für sich im Vertrauten zu sterben.
Das einleitende Zitat von Pascal Quignard am Beginn des Buches ist sehr passend:

„Man erzählt, dass Bambusstangen der gleichen Herkunft zur gleichen Zeit blühen und zur gleichen Zeit sterben, so entfernt die Orte sein mögen, wo sie auf der Welt gepflanzt worden sind.“

Ein kleiner „Leseschatz“, der mich überzeugt und viel Lesevergnügen bereitet hat. Der Autor Éric Faye wurde mit diesem Text zum ersten Mal ins Deutsche übersetzt. In Frankreich war der Titel bereits ein großer Publikumserfolg und wurde mit dem bedeutenden Grand Prix de l’Académie Française ausgezeichnet. Das Buch wurde von der Grafik-Designerin Anja Wesner gestaltet, deren Arbeiten bereits beim Wettbewerb der „schönsten Bücher der Welt“ berücksichtigt wurden.

Zimmer frei Nagasaki

5 Kommentare

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5 Antworten zu “Éric Faye: „Zimmer frei in Nagasaki“

  1. Deine Besprechung liest sich aber ganz ausgesprochen neugierig machend und zielt mal wieder voll auf meine Will-Ich-Auch-Lesen-Aber-Sofort-Hirnregion! Und dann noch der Vergleich mit dem tollen Krawatten-Roman. Was für eine Verführung!
    Viele Grüße, Claudia

  2. Das klingt mal wieder sehr gut!

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