Es beginnt mit der Mantelteilung von Sankt Martin. Ein Akt aus Nächstenliebe. Eine Tat, die bis heute bekannt und sogar gefeiert wird. Martiniloben ist ein Winzerfest, auf dem Wein der Region verköstigt wird. Aus dem vorangestellten Zitat von Friedrich Achleitner: „Das Dorf ist eine Versammlung von netten Menschen, die untereinander alle verfeindet sind“ wird die Tendenz des vorliegenden Romans deutlich. Marlen Schachinger hat ein Werk geschaffen, in dem es viel zu erkunden gibt. Es ist ein sprachlich ausgefeilter, tiefgründiger Roman, der einen Lesesog entfaltet, der bis zum Ende spannend bleibt. Der Text mag an „Aller Liebe Anfang“ von Judith Hermann erinnern, ist dann aber viel verschachtelter und bietet neben dem Stalking-Thema eine gegenwärtige politische und gesellschaftliche Beklemmung. Das Christliche im Ursprung des Festes Martiniloben als Vorwand für das Gutbürgerliche, das zumindest im Roman sehr beängstigende Tendenzen zum rechten Gedankengut entwickeln kann.
Mona ist mit ihrem Mann dem stressigen Stadtleben entflohen und auf das Land gezogen. Als Philosophiedozentin pendelt sie zwischen dem namenlosen Dorf und der Stadt, in der sie tätig ist. Mona und Emil, ihr Ehemann, ein zurzeit arbeitsloser Journalist, haben vor kurzem ein Kind verloren und durch seine Arbeitslosigkeit wird ihre Beziehung auf eine Probe gestellt. Emil lässt sie auch oft alleine mit dem Vorwand von Recherchen für mögliche Artikel. Ist er Mona treu? Besonders als die Nachbarin den Kontakt zu ihnen vermehrt sucht, wird ihr Misstrauen geschürt. Im Dorf leben Flüchtlinge, um die sich Mona ehrenamtlich kümmert. Die Gruppe an weiteren Freiwilligen ist sehr geschrumpft und die Stimmung im Dorf wird durch den Rechtsruck immer unangenehmer. Die Flüchtlingswelle wird für die ohnehin rechtsorientierte Dorfgemeinschaft als eine Art Naturkatastrophe empfunden und Mona muss sich immer mehr Anfeindungen gefallen lassen. Sie bekommt Drohbriefe und Emil versteht nicht, warum Mona nicht zur Polizei geht. Als sie einen Schlüssel vermisst, nimmt die Bedrohung immer mehr zu. Verschafft sich jemand Zugang zum Haus? Die Katze verschwindet, der Kamin ist plötzlich mit Wasser übergossen und eines ihrer Manuskripte wurde an ihrem Computer manipuliert. Monas Texte, Essays sind meist ans Ende eines Kapitels gestellt und runden die Charakterisierung gekonnt ab. Die Drohgebärden werden massiver und die Briefe beinhalten immer mehr einen beängstigenden Ton und sogar kleine Mordwerkzeuge.
Auch das Berufsleben zerrt an Monas Psyche und Gesundheit. Ihre Stellung steht in Frage und ihre ehrenamtliche Tätigkeit wird ihr von ihrem Vorgesetzten angelastet. Mona leidet immer mehr und es kommt zu einem Zusammenbruch. Es zeigt sich, wem sie vertrauen kann und der gesellschaftliche Druck spitzt sich immer mehr zu. Das ganze Dorf bereitet sich auf das kommende Martiniloben vor und während des Trinkgelages eskaliert die Situation.
Ein Gesellschaftsroman oder eine gegenwärtige Dystopie, die einen Spannungsbogen aufbaut und bis zum Ende aufrechterhält. Marlen Schachinger spielt mit der Literatur und kann einfach sehr gut schreiben. Wer die Autorin nicht kennt, sollte unbedingt ihrer Stimme Gehör schenken. Ein Buch, das fesselt, begeistert und den Leser innehalten lässt.
Eine lohnenswerte Lektüre. Ein literarisches Werk, das in sich einen Thriller verbirgt und Sozialkritisches aufzeigt. Eine ländliche Idylle, die durch den Menschen keine mehr ist. Die Angst vor dem Unbekannten verbreitet sich beängstigend und die gefühlte egozentrische Verletzlichkeit dominiert und macht ein friedvolles Miteinander kaum möglich. Hass ist ein Gift, das schleichend wirkt und Angst verbreitet. Im Roman prallt das Stadtleben auf das Landleben und die Fronten zwischen Arm und Reich verhärten sich in Missgunst und Neid. Die Religion als Vorwand der eigenen Kultur, die doch weit vom Ursprung gelebt wird und ein Martiniloben zum Desaster führt.
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