Annie Ernauxs Werke sind stets autobiografisch. Nach „Die Jahre“ und „Erinnerung eines Mädchens“ erscheint nun „Der Platz“ auf Deutsch. Alle Werke gelten als prägend für die französische Gegenwartsliteratur und sind genaue Beobachtungen ihrer persönlichen Herkunftsverhältnisse. „Der Platz“ erschien bereits 1984 und erschuf eine neue Form der Selbstbetrachtung, wobei sie sich diesmal selbst reduziert und hinter ihren Vater stellt. Alle Werke leben von einer gestochenen Leichtigkeit, die aber jeweils eine poetische, literarische Tiefe erzeugt. „Die Jahre“ sind ihre Geschichten, aber auch ein Gesellschaftsporträt und eine zeitgeschichtliche Chronik. Es sind ihre Eindrücke, die zuweilen auch nur aus einem Satz bestehen. Gespannt kann man nun auf die Verfilmung warten, denn „Die Jahre“ lebt durch die verknappte Sprache und Fülle an Beobachtungen. Alle Werke wurden aus dem Französischen sehr einfühlsam von Sonja Finck übersetzt.
„Der Platz“ beginnt mit der Erinnerung von Annie Ernaux, als sie ihre Ausbildung beendet und verbeamtet wird. Ihre Mutter gratuliert ihr und der Vater stirbt zwei Monate später. Es ist das Jahr 1967. Die Vorbereitungen für die Trauerfeier und die Beisetzung geben den Anlass sich mit dem Leben des Vaters auseinanderzusetzen. Er war stets der Arbeiter, der Blaumannträger, der den gesellschaftlichen Aufstieg schaffte, dann aber stets die Angst vor dem erneuten Abstieg hatte. Die Geschichte beginnt ein paar Monate vor dem zwanzigsten Jahrhundert in der Normandie. Der Großvater war Fuhrmann und arbeitete seit seinem achten Lebensjahr immer hart und hatte keine Zeit für Geselligkeit oder Bildung. Die Großmutter hatte hingegen eine Klosterschule besucht. Ihr Sohn, Annie Ernauxs Vater, ging zur Schule und lernte. Doch mit zwölf nahm ihn sein Vater aus der Abschlussklasse zu jenem Hof, wo auch er tätig war. Die Familie konnte es sich nicht leisten, ihn einfach so weiter durchzufüttern. Er arbeitete fortan als Knecht. Annie Ernaux erinnert sich immer, wenn sie Proust oder Mauriac liest, dass diese Autoren über die Zeit schreiben, als ihr Vater Kind war. Die Welt, in der er aufgewachsen ist, ist für sie reinstes Mittelalter. Nach dem Ersten Weltkrieg arbeitete ihr Vater in einer Seilerei und lernte dort seine zukünftige Frau kennen. Nach dem Versuch mit diversen Arbeiten um die Runden zu kommen, kauften die beiden einen Laden für den alltäglichen Bedarf, in der Hoffnung, der Armut zu entkommen. Doch bis sie Erfolge erzielten, war es ein beschwerlicher Weg. Als sie dieses Geschäft aufgaben und später einen neuen Lebensmittelladen mit anliegender Kneipe erwarben, stellte sich langsam ein Wohlstand ein. Der Vater blieb aber stets wie er war und als seine Tochter eine höhere Schule besuchte, entfremdeten sie sich Stück für Stück. Doch war der Vater auch stolz auf seine Tochter. Letztendlich war wohl einer seiner Lebenszwecke, dass seine Tochter mal jener Welt angehören sollte, die beständig auf ihn herabgeblickt hatte.
Annie Ernauxs Blick richtet sich auf ihren eigenen Weg, auf das Milieu, das sie durch ihre Bildung verlassen konnte. Es wird aber niemals gejammert, die Familie war bemüht, ihr Glück zu finden. Der Text stellt die Frage der Zugehörigkeit und setzt sich mit der Gesellschaft auseinander. Das Buch erzählt die persönliche Geschichte der Autorin und ihrer Familie und zeigt, dass Bildung, das Lesen und ein Bewusstsein für Kultur lebensverändernd sind. Ein Werk voller Erinnerungsbilder, die zart, mit einer leichten Sprache und doch stets literarisch festgehalten wurden.
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Siehe auch Leseschatz-TV: Annie Ernaux: „Die Jahre“ (YouTube)
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